Unter Freunden
war.
Joav schaute Nina an, und sie schaute ihn an, mit einem klaren grünen Blick, der sagte: Es wird dir gelingen, mich angenehm zu überraschen. Sie standen dicht voreinander. Das Büro war ausgestattet mit zwei Schreibtischen, einfachen Stühlen, einer gepolsterten Bank und einem Stahlschrank voller Aktenordner. Das einzige Fenster war ohne Vorhang, und an der Wand hing eineLuftaufnahme des Kibbuz mit allen umliegenden landwirtschaftlichen Nutzflächen. Bevor er die Augen vor Ninas Blick senkte, sah Joav noch eine kleine Falte über ihrer Oberlippe und dachte, diese Falte ist neu. Auch um ihre müden Augen waren winzige Fältchen. Er betrachtete ihre zarte Kinnlinie und ihre erbarmungslos kurzgeschnittenen hellen Haare. Sie wirkte stark, nicht schutzbedürftig, sondern sehr entschlossen. Plötzlich bedauerte er, dass sie nicht gebrochen wirkte. Nur mit Mühe unterdrückte er den Drang, sie an sich zu ziehen und zu umarmen. Oder ihren Kopf auf seinen Schoß zu legen. Eine Welle der Zuneigung überflutete ihn, doch er riss sich zusammen, denn er wusste, dass dies keine fürsorgliche Zuneigung war und genaugenommen gar keine Zuneigung.
»Du kannst heute Nacht hier auf der Bank schlafen«, sagte er. »Das ist zwar nicht besonders bequem, aber ich habe jetzt nichts anderes für dich. Willst du, dass ich dir eine Tasse Tee mache? Es gibt hier einen Wasserkessel und Tassen und sogar noch ein paar Kekse. Ich suche dir eine Decke und ein Kissen.«
»Danke. Decke und Kissen sind nicht nötig. Ich gehe nicht schlafen. Ich bin nicht müde. Lass mich einfach bis morgen früh hier sitzen.«
Joav schaltete den Heizlüfter und den Wasserkessel an und ging hinaus. Zehn Minuten später kam er mit einem Kissen und zwei Wolldecken zurück. Er stellte fest, dass Nina sich schon eine Tasse Tee gekocht hatte, ohne ihn zu fragen, ob er auch eine trinken wolle. Er blieb kurz in der Tür stehen, zögerte, und sein mageres Gesicht wurde rot, weil er gern geblieben wäre, obwohl ihm klar war, dass er jetzt gehen musste, und er wusste auch, dass er vor seinem Weggehen noch etwas sagen musste, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Nina berührte mit den Fingerspitzen seine Schulter und sagte: »Danke.« Und dann sagte sie: »Mach dir keine Sorgen. Ich werde kurz vor sechs, noch bevor irgendjemand kommt, von hier verschwinden und wie üblich zur Imkerei gehen. Und ich werde alles aufgeräumt zurücklassen.«
Und als könnte sie seine Gedanken lesen, fügte sie hinzu: »Niemand wird erfahren, dass ich heute Nacht hier war.«
Joav zögerte, er zog die Schultern hoch und sagte: »Gut. Dann wäre es das vorerst. Gute Nacht.«
Und dann sagte er noch: »Versuch trotzdem, ein wenig zu schlafen.«
Er zog leise die Tür hinter sich zu, draußen klappte er seinen Mantelkragen hoch und lief mit großen Schrittenden schlammigen Weg entlang, der an den Unterkünften der Soldaten vorbei zum Brutstall führte, denn es war schon ein Uhr nachts, und er musste dort das Thermometer kontrollieren. Er bedauerte, keine Taschenlampe dabeizuhaben. Die Kälte wurde schneidend, und der Wind nahm zu. Joav dachte an die Dunkelheit, die die Obstplantagen in diesen Winternächten erfüllte, und einen Moment lang spürte er den Drang, alles hinter sich zu lassen, den Wachdienst im Stich zu lassen, zu den Obstplantagen zu laufen und allein zwischen den winterlich kahlen Bäumen herumzustreunen. Jemand wartete irgendwo auf ihn, das spürte er, jemand wartete geduldig all die Jahre lang, wartete und wusste, selbst wenn es sich hinauszögerte, Joav würde irgendwann kommen. Eines Nachts würde er aufstehen und sich endlich auf den Weg machen. Aber wohin? Das wusste er nicht, und im Grunde hatte er Angst davor, es zu wissen.
Vom Brutstall aus ging er den Zaun entlang zum Kibbuztor, mit hochgeschlagenem Kragen, die Mütze tief über die Ohren gezogen, die Waffe über seiner Schulter. Als er auf seiner Runde beim Kinderhaus vorbeikam, ging er hinein, deckte seine Zwillinge gut zu und küsste beide leicht auf den Kopf, dann lief er von Bett zu Bettund deckte auch die anderen Kinder zu. Danach ging er zu sich nach Hause, zog vor der Tür die Schuhe aus und betrat auf Zehenspitzen das Zimmer, um das kleine Radio neben dem Bett auszumachen, bei dessen Klängen seine Frau eingeschlafen war. Dana schlief tief und fest, sie lag auf dem Rücken, und ihre dunklen Locken breiteten sich auf dem Kopfkissen aus. Vorsichtig zog er die Decke zurecht, berührte wie entschuldigend mit den
Weitere Kostenlose Bücher