Unter Freunden
kannst jetzt wegfahren, und du wirst es auch tun. Was kümmert es dich, was die Versammlung beschließt. Du wirst als Ingenieur wiederkommen, und alle werden vor Neid platzen. Oder du wirst nicht zurückkommen.«
»Ich halte es hier nicht mehr aus, Mutter. Arthur lädtmich ein, und ich fahre. Unter der Bedingung, dass die Versammlung zustimmt. Nur ohne Maschinenbau.«
Henja sagte: »Die Versammlung wird nicht zustimmen. Die Stimmung ist bösartig.«
Ein Geruch von Orangenschalen und von Mist wehte vom Kuhstall herüber und erfüllte das Zimmer. Eine Mücke summte durchdringend neben Henjas Ohr. Sie versuchte, sie zu erschlagen, traf aber nur sich selbst. Dann sagte sie: »Schließlich weißt du selbst nicht, was du willst. Geh morgen zum Sekretariat und sprich mit Joav Karni. Joav ist ein umsichtiger Mann. Vielleicht findet er eine Lösung.«
Jotam wollte nicht mit dem Kibbuzsekretär sprechen. Eigentlich wollte er mit niemandem sprechen. Auch nicht mit seiner Mutter. Er wollte nur weg. Zwei-, dreimal war er gegen Abend allein in den Ruinen von Deir Adschlun herumgestreunt, fast eine Stunde lang. Er war in die zerstörte Moschee und das Haus des Scheichs gegangen, das mit Dynamit gesprengt worden war, und hatte nichts gefunden, denn er hatte nicht gewusst, was er suchte, und war bedrückt zum Kibbuz zurückgegangen. Er hatte den unbestimmten Drang, noch einmal hinzugehen und die Ruinen von Deir Adschlun genauer zu untersuchen, als wäre dort unter all den Steinbrocken oder im zugeschütteten Brunnen eine einfache Antwort verborgen. Aber auf welche Frage, das wusste er nicht.
Manche bei uns sagten, Jotam Kalisch sei hoffnungslos in Nina Sirota verliebt, die fünf oder sechs Jahre älter war als er und sich vor einigen Monaten von ihrem Mann getrennt hatte. Nachdem sie aus ihrer Wohnung in das Zimmer gezogen war, das ihr der Wohnungsausschuss in der Siedlung 3 zugeteilt hatte, kam Jotam eines Tages nach der Arbeit in den Obstplantagen und grub, ohne ein Wort zu sagen, den kleinen Garten vor ihrer neuen Behausung um. Mehr als einmal hatten wir beobachtet, wie er vor dem Speisesaal stand und wartete, bis sie herauskam, und ihr dann folgte, bis ihn der Mut verließ, er in einen Seitenweg abbog und verschwand. Fast nie wagte er es, sie anzusprechen, aber manchmal ging er abends in die Schreinerei und bastelte Spielsachen für ihre Kinder. In seinen riesigen Händen sahen die Sachen aus wie Miniaturen. Als am Schwarzen Brett vor dem Speisesaal die Liste für Sonderschichten am Schabbat aufgehängt wurde, fiel uns auf, dass Jotam wartete, bis Nina sich eingetragen hatte, dann schrieb er auch seinen Namen unter das Datum, das Nina gewählt hatte. Doch bei der Arbeit selbst sprach er sie nicht an. Ein einzigesMal fasste er Mut und fragte sie zwischen den Reihen der Weinstöcke: »Ist dir heiß, Nina?«
Und sie antwortete lächelnd: »Alles in Ordnung, danke.«
Sie war immer freundlich zu ihm. Wenn sie sich irgendwo zufällig trafen, grüsste sie ihn und fragte, wie es ihm gehe, wie es seiner Mutter gehe und was sich in den Obstplantagen tue. Doch sie begegnete nicht nur Jotam mit Freundlichkeit, sondern auch allen anderen, sogar den Kindern. Und jeden erfüllte ein angenehmes, warmes Gefühl, wenn sie lächelnd ein paar einfache Worte zu ihm oder ihr sagte, wie zum Beispiel: Guten Abend, wie geht es dir, was gibt es Neues?
Roni Schindlin sagte: »Herzlichen Glückwunsch. Noch ein gebrochenes Herz. Die Raupe hat sich in den Schmetterling verliebt.«
Wir schätzten Nina für ihren unabhängigen Geist und für ihre Standhaftigkeit, mit der sie immer wieder unerschrocken gegen die allgemein herrschende Gesinnung opponierte. Sie führte die immer größer werdende Gruppe der Mütter an, die dagegen ankämpften, dass die Kinder gemeinsam im Kinderhaus schlafen mussten, und wollten, dass die Kinder die Nacht über bei ihren Eltern sein durften. David Dagan sah darin eine fundamentale Bedrohung der Kibbuzprinzipien, und die meisten alten Mitglieder teilten seine Ansicht. Nina brachte ein umstürzlerisches Element in die Versammlungen, ein Element ständiger Unruhe. Zuweilen unterstützte Joav Karni, der Kibbuzsekretär, sie bei der einen oder anderen Angelegenheit, zum Leidwesen der Konservativen. Sie arbeitete allein in der Imkerei, die sie zu einem der einträglichsten Produktionszweige des Kibbuz Jikhat gemacht hatte. Bei den Vollversammlungen kämpfte sie oft für ihren Standpunkt, dass die Männer einen größeren Anteil
Weitere Kostenlose Bücher