Unter Freunden
Erscheinung war Jotam ein schüchterner junger Mann, er war wortkarg, manchmal allerdings gab er plötzlich eine merkwürdige Verallgemeinerung von sich. Bei uns hieß er nur der Philosoph, weil er einmal aus seinem Schweigen heraus erklärt hatte, der Mensch sei grundsätzlich ein deformiertes Geschöpf. Ein andermal sagte er beim Abendessen im Speisesaal, zwischen den Menschen, den Tieren, den Pflanzen und der unbelebten Materie gebe es mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Roni Schindlin bemerkte dazu hinter Jotams Rücken, Jotam Kalisch selbst sehe tatsächlich einer Kiste oder einem Pappkarton ziemlich ähnlich.
Ein halbes Jahr bevor der Brief mit dem Angebot seines Onkels Arthur eintraf, hatte Jotam seinen Militärdienst beendet und angefangen, in den Obstplantagen zu arbeiten. Bei dieser Arbeit tat er sich nicht hervor, er hatte etwas Verschlafenes an sich, aber die anderenArbeiter waren beeindruckt von seiner physischen Kraft und seiner Bereitschaft, länger zu arbeiten, wann immer es nötig war. Nach der Ankunft des Briefes zögerte Jotam zwei, drei Tage, dann sagte er abends vor dem Essen zu seiner Mutter, mit einer so leisen Stimme, als wäre es ein Schuldbekenntnis: »Ja, ich will, aber nur, wenn die Vollversammlung des Kibbuz zustimmt.«
Henja sagte: »Es wird schwer sein, eine Mehrheit zusammenzubekommen. Man muss mit lauter Neid und Missgunst rechnen.«
Roni Schindlin sagte an seinem Tisch im Speisesaal: »Gekommen ist die Zeit der Liebe, der Liebe der Onkel. Es wäre nicht schlecht, für jeden von uns einen reichen Onkel in Italien zu organisieren. Dann könnten wir unsere jungen Leute auf Kosten der Onkel zum Studium schicken, und damit hätte es sich.«
David Dagan, der Lehrer, beschied Henja, seiner Meinung nach müsse man aus drei Gründen gegen Jotams Antrag stimmen. Erstens aus dem prinzipiellen Grund, dass jeder junge Mann und jedes junge Mädchen nach dem Militärdienst mindestens drei Jahre im Kibbuz arbeiten müsse, erst danach könne man vielleicht über ein Studium sprechen. Sonst werde es hier bald niemanden mehr geben, um die Kühe zu melken. Zweitens würden derartige Geschenke von Verwandten das Prinzip der Gleichheit ernsthaft gefährden. Und drittens sollten die jungen Leute etwas lernen, was dem ganzen Kibbuz nütze. Mit Maschinenbau könne man hier nichts anfangen. Es gebe schon zwei Mechaniker, das sei genug, der Kibbuz benötige nicht zusätzlich noch einen diplomierten Professor.
Vergeblich versuchte Henja, David Dagan mit dem Argument zu erweichen, die jungen Leute hätten ein Recht auf Selbstverwirklichung.
David Dagan lachte nur und erklärte: »Das ganze Gerede von Selbstverwirklichung, das ist doch nur Verzärtelung, kein Argument. Gib mir nur einen Moment, und lass uns gemeinsam Ordnung in die Sache bringen. Entweder wir arbeiten hier alle, ohne Ausnahme, acht Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche, oder es wird keinen Kibbuz mehr geben.«
Am frühen Abend ging Henja zu Joav Karni, dem Kibbuzsekretär, und sagte, sie wolle alle Karten auf den Tisch legen. Wenn die Vollversammlung am Samstagabend Jotam nicht erlauben würde, auf Einladung seines Onkels Arthur zum Studium nach Italien zu fahren, sei zu befürchten, dass Jotam auch ohne Zustimmung fahren würde. »Wollt ihr ihn wirklich verlieren? Machteuch das gar nichts aus?« Dieses Ultimatum stellte Henja aus eigenem Antrieb, denn Jotam hatte ihr im Gegenteil ausdrücklich gesagt, er wolle nur mit Zustimmung des Kibbuz die Einladung seines Onkels Arthur annehmen.
Joav Karni fragte: »Warum bist du es, die zu mir kommt, Henja? Warum kommt Jotam nicht selbst, um mit mir zu sprechen?«
»Du kennst Jotam doch. Ein in sich gekehrter Junge. Verschlossen. Er hat Hemmungen.«
»Wenn er mutig genug ist, um in Italien zu studieren, ohne Freunde und ohne die Sprache zu sprechen, sollte er auch genug Mut aufbringen, selbst zu mir zu kommen, da kann er nicht seine Mutter schicken.«
»Ich werde ihm sagen, dass er zu dir kommen soll.«
»Ja, das soll er. Ich fürchte nur, dass er von mir nicht das zu hören bekommt, was er hören möchte. Ich bin gegen Privatinitiativen und private Finanzierungen im Kibbuzleben. Jotam muss warten, bis er an der Reihe ist, und dann wird der Ausbildungsausschuss zusammen mit ihm beschließen, was er lernen soll und wann und wo. Wenn die Zeit gekommen ist und sich der Onkel an den Kosten beteiligen will, werden wir über seinen Antrag abstimmen. Das ist unser Weg. So sind die Regeln. Aber sag
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