Unter goldenen Schwingen
plötzlich zu Stein geworden. Manchmal wünschte ich, Ramiels Anwesenheit würde meinen Verstand nicht dermaßen schärfen. »Ich verstehe.«
Nathaniel hatte den Kopf gesenkt und blickte zu Boden. Ich konnte spüren, wie sehr er sich quälte, und riss mich zusammen.
»Tut mir leid, die Erzengel enttäuschen zu müssen«, sagte ich in nüchternem Ton. »Sie werden sich damit abfinden müssen, dass diese Sterbliche sie gesehen hat, und trotzdem weiterlebt. Wann und wo findet das Tribunal statt?«
»Ich habe die Kapelle beim Friedhof vorgeschlagen«, sagte Ramiel. »Es ist sicheres Gebiet für Victoria, für den Fall, dass …« Sein Blick flackerte zu Nathaniel, der grimmig nickte. »Es findet heute um Mitternacht statt.«
Nathaniel sah mich an, als würde er erwarten, dass ich jeden Moment zusammenbrach.
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte ich sachlich und marschierte Richtung Tür. »Wir haben viel zu tun. Danke für deine Hilfe, Ramiel.«
Ich schlüpfte in meine Stiefel und griff nach meiner Jacke. Die beiden Engel folgten mir verwundert.
»Was hat sie vor?«, fragte Ramiel.
»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Nathaniel.
»Nathaniel?« Ich stand bereits in der Tür.
»Hol Seraphela«, sagte Nathaniel über die Schulter zu Ramiel, während er mir folgte.
Ich fuhr mit dem Mini Cooper zum Friedhof und parkte vor dem Haupttor. Nathaniel landete geschmeidig neben mir.
»Wir sind zu früh dran«, murmelte er. »Oder kannst du es nicht erwarten, mich loszuwerden?«
»Mach keine dummen Witze.« Ich runzelte die Stirn. »Wir sind hier, um mit Kaster zu sprechen. Schließlich sollte er wissen, was um Mitternacht in seiner Kapelle los sein wird. Oder willst du, dass er ungebeten hereinplatzt?«
Der wahre Grund war, dass ich inständig hoffte, der alte Mann könnte mir einen Tipp geben, wie ich Nathaniels Hals aus der Schlinge ziehen konnte – ganz abgesehen von dem Schild und dem Unverzeihlichen Problem. Aus reinem Zeitmangel hatte ich inzwischen beschlossen, mich von den drohenden Katastrophen ihrer Dringlichkeit nach verrückt machen zu lassen. Und jetzt hatte definitiv Nathaniels Verteidigung die oberste Priorität.
Ich überlegte, wie ich es anstellen sollte, unter vier Augen mit dem Friedhofswärter zu sprechen. Ob ich Nathaniel einfach bitten sollte, uns allein zu lassen, so wie Melinda es getan hatte? Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, doch ich hatte eindeutig keine Zeit mehr, mich mit der Frage aufzuhalten, ob ich seine Gefühle verletzte.
»Sprich mit ihm«, nickte Nathaniel abgelenkt, als wir durch das Haupttor traten.
»Was?«, fragte ich irritiert.
»Über unsere geschlossene Gesellschaft heute Nacht. Sag ihm Bescheid.«
Ich folgte Nathaniels Blick und sah, dass Ramiel und Seraphela in einiger Entfernung auf ihn warteten. Beide hatten einen Gesichtsausdruck, der dem Friedhof angemessen war.
»Lass mich raten«, sagte ich, verblüfft darüber, dass ich auf so unerwartet einfache Art zu einem Vieraugengespräch mit Kaster gekommen war. »Du willst allein mit den beiden reden?«
»Wir kommen gleich nach.« Nathaniel schenkte mir ein Lächeln, das nicht über seine Anspannung hinwegtäuschte.
Ich ging mit raschen Schritten zu Kasters Haus und klopfte an die Tür.
»Herein«, ertönte Kasters sonore Stimme. Er stand am Herd und drehte sich nicht einmal um, als ich eintrat.
»Habt ihr keine eigene Wohnung?«
»Ich brauche Ihre Hilfe«, platzte ich heraus. »Das Tribunal ist beschlossen und es findet um Mitternacht in der Kapelle statt.«
Kaster ließ das Küchenmesser, mit dem er gerade Gemüse schnitt, sinken, und drehte sich zu mir um.
»Warum hier?«, murmelte er stirnrunzelnd.
»Weil ich dabei sein werde.«
Kaster sah überrascht aus. »Ein Tribunal mit einem Menschen? Na, das wäre eine Premiere.« Er musterte mich mit schmalen Augen. »Was hast du angestellt, dass sie dich dabei sein lassen?«
»Ich habe gesagt, dass ich wichtige Informationen habe, die Nathaniel retten können.«
Kaster stutzte. Für einen Moment schien er tatsächlich beeindruckt zu sein. »Das nenne ich einen guten Grund. Ich habe dich anscheinend unterschätzt, Mädchen. Und wie komme ich bei der ganzen Angelegenheit ins Spiel? Es geht doch nicht nur darum, dass ihr meine Kapelle für dieses Spektakel belagern wollt, oder? Soll ich dir etwa dabei zusehen, wie du für Nathaniel ein Kaninchen aus dem Hut zauberst?« Er schmunzelte. »Ich muss zugeben, die Vorstellung, Mikes Gesicht zu sehen, wenn du seine
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