Unter goldenen Schwingen
die Hälfte von dem, was du denkst, und selbst das ist unzusammenhängend und ergibt überhaupt keinen Sinn!« Er blieb frustriert stehen. »Ich bin es gewohnt, ständig deine Gedanken zu hören. Jetzt höre ich sie meist nur noch, wenn du sie direkt an mich richtest, um mit mir zu kommunizieren. Alles andere ist …« Er schüttelte den Kopf und starrte mich mit einem zerrissenen Ausdruck in den Augen an. »Es bringt mich um, dass du so viel über Lazarus nachdenkst, dass du dich seinetwegen so quälst. Ich schwöre dir, ich werde ihn jagen, ich werde ihn zur Strecke bringen für das, was er dir antut …«
»Bitte, sprich keinen solchen Schwur aus«, sagte ich leise. »Ehrlich, ich denke nicht so viel über Lazarus nach.«
»Du kannst mir nichts vormachen.« Nathaniel runzelte die Stirn. »Es wird immer schwerer für mich, deine Gedanken zu hören. Es scheint mit jedem Augenblick schwerer zu werden. Das kann nur bedeuten, dass du immer mehr über Lazarus nachgrübelst.«
Nein. Es bedeutet, dass meine Gefühle für dich immer stärker werden.
Nathaniel starrte mich an. »Bitte!«, schnaufte er. » Gar nichts! Ich höre gar nichts! Am Ende kommt es noch so weit, dass ich dich fragen muss, was du denkst.«
Ich sperrte die Wohnungstür auf und trat ins Vorzimmer. Und plötzlich wusste ich, dass wir es nicht schaffen würden. Dass die Erzengel Nathaniel verurteilen würden, und ich ihn für immer verlieren würde.
Vielleicht war das das letzte Mal, das ich mit ihm hier in diesem Zimmer stand.
Ich versuchte, diese Ängste zurückzuhalten, doch die Dämme bröckelten bedrohlich. Und ich wusste, wenn sie brachen, würde ich rettungslos ertrinken.
»Wo wir gerade von Lazarus sprechen«, murmelte ich und kämpfte gegen das elende Gefühl in mir an, das mich langsam überwältigte. »Ich glaube, er hat mir ein Willkommensgeschenk geschickt.«
Ich drückte die Tür zum Wohnzimmer auf und sah mich einer Horde Inferni gegenüber, die flüsternd auf mich zu humpelten.
Sie kamen keinen Schritt weit.
Nathaniel explodierte mit einer Intensität, die ich noch nicht erlebt hatte. Gleißendes, goldenes Licht flutete die Wohnung, und verbrannte die kreischende Infernihorde binnen eines Augenblicks zu Asche.
Ich keuchte erschrocken und hob schützend meine Hände vor die Augen. Erst als das Licht mich nicht mehr blendete, blinzelte ich vorsichtig.
Die lähmende Hoffnungslosigkeit fiel von mir ab. Nathaniel stand zornerfüllt vor mir.
»Viel besser«, murmelte er. »Genau das habe ich jetzt gebraucht.«
»Freut mich«, erwiderte ich heiser und räusperte mich. »Sollen wir dann hineingehen?«
Im Wohnzimmer, das nun völlig infernifrei war, tigerte Nathaniel auf und ab wie ein eingesperrtes Raubtier. Ich lehnte mich an den Esszimmertisch und beobachtete ihn eine Weile schweigend.
»Erzähl mir etwas über die Erzengel«, sagte ich plötzlich.
Nathaniel blieb stehen. »Was willst du wissen?«
»Alles, was uns irgendwie von Nutzen sein kann.«
Nathaniel lächelte schwach. »Glaub mir, es gibt nichts, das uns von Nutzen sein könnte. Die Erzengel sind sehr alt und sehr mächtig. Sie überwachen die Einhaltung der Gesetze und halten die kosmische Ordnung aufrecht. Sie haben kein Interesse an Einzelschicksalen.«
»Soviel ich weiß, gibt es sieben?«
Nathaniel nickte.
»Werden alle sieben an dem Tribunal teilnehmen?«
»Nein.« Ramiels raue Stimme ließ mich erschrocken herumfahren. Aus dem Nichts stand der bronzene Engel plötzlich neben mir, mit einem ernsten Ausdruck in seinem markanten Gesicht. »Es werden nur drei sein. Michael, Gabriel und Uriel.« Er wandte sich Nathaniel zu. »Ort und Zeit für das Tribunal stehen fest.«
Mein Magen verkrampfte sich zu einem Felsbrocken.
»Wann?«, fragte Nathaniel tonlos.
»Um Mitternacht.«
Nathaniel nickte knapp. »Ich möchte, dass ihr bei Victoria bleibt.«
»Ich habe mich wohl verhört! Kommt nicht in Frage«, sagte ich entrüstet. »Ich komme mit.«
Nathaniel schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber das ist unmöglich. Ramiel und Seraphela werden bei dir bleiben.«
»Hörst du nicht, was ich gesagt habe? Ich komme mit. Um Mitternacht, sagst du?« Ich wandte mich Ramiel zu. »Wo findet es statt?«
»Es ist kein Ort, der für Sterbliche zugänglich ist«, sagte Ramiel. »Nathaniel hat Recht. Es ist unmöglich für dich, mitzukommen.«
»Das ist mir egal«, erwiderte ich. »Wir ändern die Regeln.«
»Victoria, es liegt nicht an uns, das zu entscheiden …«,
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