Unter goldenen Schwingen
Grund, warum Melinda dich und die Inferni sehen kann?«
»Es ist der Grund, warum sie mich sehen kann. Nur Engel und Erdengänger können andere Engel sehen. Abgesehen von Dämonen und Inferni, natürlich.«
Ich runzelte die Stirn.
»Hast du dich nie gefragt, warum du die Inferni sehen kannst, aber keine anderen Engel?«, fragte er.
»Ehrlich gesagt, nicht. Aber jetzt, wo du es sagst … ich schätze, es gibt außer euch noch ein paar andere Engel?«
Er schmunzelte. »Ein paar, ja.«
»Warum kann ich sie nicht sehen?«
»Weil Sterbliche nur ihre eigenen Schutzengel erkennen können. Die einzige Ausnahme sind, wie gesagt, Erdengänger.«
»Das sagst du mir erst jetzt?«, stöhnte ich. »Ich mache mich seit Tagen verrückt damit, was geschieht, falls dich jemand erkennt.«
»Verzeih mir«, bat er. »Ich durfte dir nichts von den Erdengängern erzählen.«
»Warum erzählst du es mir jetzt?«, fragte ich leise.
Er betrachtete mich lange, und als er antwortete, war seine Stimme erfüllt von Resignation. »Weil ich dir jede Information geben will, die dir weiterhelfen könnte, wenn du … auf dich gestellt bist.«
»So weit wird es nicht kommen«, flüsterte ich.
»Was auch immer Melinda zu dir gesagt hat«, sagte Nathaniel leise, und zum ersten Mal sah ich echte, nackte Verzweiflung in seinen schönen Augen. »Ich hoffe, dass es funktioniert. Die Vorstellung, dich zu verlassen, bringt mich um den Verstand.«
Ich presste meine Lippen aufeinander. Seine hoffnungsvollen Worte machten das elende Loch in meinem Magen zu einem riesigen schwarzen Vakuum.
»Wer sind diese drei Erzengel, die dieses Tribunal abhalten werden?« Ich hielt meine Stimme ruhig und gleichzeitig krallte ich meine Hände in die Rückenlehne eines Stuhls, damit sie nicht unkontrolliert zitterten.
»Michael, Gabriel und Uriel. Michael ist der Mächtigste von ihnen.« Nathaniel sprach in gedämpftem Ton. »Er wird das Tribunal leiten. Gabriels Stärke sind Wandlungen und Übergänge. Und Uriel steht zwischen Leben und Tod.«
»Ist ja reizend«, murmelte ich. »Klingt wie Richter, Priester und Henker.«
»Tribunale werden nicht abgehalten, um Engel freizusprechen«, sagte Nathaniel dunkel. »Das solltest du wissen.«
»Dieses hier schon«, sagte ich entschlossen.
Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen trat Nathaniel zu mir. Er nahm meine Hände, löste sie sanft von der Sessellehne, und drückte sie an sein Herz. Ich hielt den Atem an. Seine Berührung kribbelte auf meiner Haut wie Elektrizität.
» Ich bin es, der dich beschützen sollte«, flüsterte er. »Nicht umgekehrt.«
»Reiner Eigennutz«, murmelte ich verwirrt und mein Herz schlug schneller, als ich die Muskeln seiner Brust unter meinen Händen spürte.
Er berührte sanft meine Wange und ein warmes Leuchten trat in seine Augen.
»Nur noch ein paar Stunden«, flüsterte er und seine Augen wanderten über mein Gesicht, so als ob er sich jede Einzelheit einprägte. »So wenig Zeit …«
»Sag das nicht«, murmelte ich. »Bitte …«
Seine Hand ruhte an meinem Hals und sein Daumen strich federleicht über meine Wange. Der Blick in seinen Augen war zerrissen von Sehnsucht und Schmerz.
»Hab keine Angst«, flüsterte ich.
Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen. »Sogar jetzt gilt deine Sorge nur mir«, flüsterte er. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich schutzlos zurückzulassen.«
»Das wirst du nicht«, sagte ich leise. »So darfst du nicht denken.«
Ein leises Räuspern unterbrach uns. Ich zuckte erschrocken zurück und entzog mich hastig Nathaniels Armen.
Ramiel stand in der Tür zur Küche, sein Blick mit einem unergründlichen Ausdruck auf uns gerichtet. Wie lange stand er schon dort?
»Sie sind einverstanden«, sagte er langsam.
Überrascht blickte ich Nathaniel an. Doch mein hoffnungsvolles Lächeln erstarb auf meinen Lippen, als ich seinen Gesichtsausdruck sah.
Er sah aus, als hätte ihn der Schlag getroffen.
»Was ist los?«, fragte ich leise. »Das ist doch eine gute Nachricht, oder?«
Nathaniel schüttelte stumm den Kopf.
»Das bedeutet, dass sie sich ihrer Sache sehr sicher sind«, sagte Ramiel. »Erzengel sind sehr auf die Wahrung unserer Geheimnisse bedacht. Sie zeigen sich Sterblichen normalerweise nicht und sie würden keine Sterbliche zu einem Tribunal zulassen, wenn sie denken würden …«
»Dass ich noch lange genug weiterleben werde, um davon zu berichten«, beendete ich seinen Satz, mit dem Gefühl, als wäre mein Inneres
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