Unter goldenen Schwingen
begann Nathaniel beschwichtigend, doch ich ließ ihn nicht ausreden.
»Dann müssen die Erzengel eben die Regeln ändern«, sagte ich entschlossen. »Ramiel, geh und richte ihnen aus, dass dieses Tribunal etwas anders verlaufen wird.«
Ramiel wechselte einen beunruhigten Blick mit Nathaniel.
»Ich halte das für keine weise Entscheidung«, sagte Ramiel angespannt.
»Sag den Erzengeln, sie sollen das Tribunal an einen anderen Ort verlegen«, sagte ich in festem Ton. »Es ist mir egal, ob es üblich ist, oder ob es ihnen passt. Ich werde dabei sein, Ende der Diskussion.«
Jetzt blickte Ramiel wirklich alarmiert.
»Victoria, das ist unmöglich. Ich werde das nicht tun.«
»Hör zu«, sagte ich kategorisch. »Ich kann es ihnen nicht selbst sagen. Also ich hasse es, diese Karte auszuspielen, aber – Nathaniel hat mir gesagt, dass er mir keinen Wunsch abschlagen darf. Ich nehme an, das gilt für euch alle.« Ich blickte ihn fest an. »Tut mir leid, Ramiel, aber ich bestehe darauf.«
In Ramiels Ausdruck mischte sich Schock mit Entsetzen.
»Danke, Nathaniel«, knurrte er. »Ich sorge persönlich dafür, dass du fällst, wenn das hier vorbei ist.«
»Victoria.« Nathaniels Stimme klang so sanft, dass ich überrascht den Kopf hob. »Ich danke dir, dass du mir beistehen willst. Aber du machst es mir nicht leichter, wenn du die Erzengel verärgerst, indem du Ramiel mit einer solch unerhörten Forderung zu ihnen schickst.«
»Denk nicht, dass ich dich nicht verstehe«, murmelte Ramiel. »Du willst bei ihm sein. Aber die Erzengel werden niemals zustimmen.«
Ich starrte die beiden einem Moment lang schweigend an.
»Sie müssen zustimmen«, sagte ich leise, mit hohler Stimme. »Richte ihnen aus, dass ich ihnen etwas zu sagen habe. Etwas, das Nathaniels Fall verhindern wird.« Ein riesiges Loch war plötzlich in meinem Bauch. Ich kämpfte darum, mir nichts anmerken zu lassen.
Jetzt würde ich gleich feststellen, ob der Schild tatsächlich all meine Gedanken vor Nathaniel abschirmte, wie er behauptet hatte. Würden er und Ramiel meinen Bluff durchschauen?
Der Ausdruck auf Ramiels Gesicht wechselte von ernster Sorge zu Verwunderung. »Habe ich … etwas verpasst?«
»Wir waren bei Melinda Seemann.« Der ärgerliche Unterton in Nathaniels Stimme war unüberhörbar. »Die beiden haben irgendeinen geheimen Plan ausgeheckt. Ich wünschte, ich könnte ihr die Flügel stutzen dafür, dass sie Victoria eine solche Verantwortung aufbürdet.«
»Was ist das für ein Plan?«, fragte Ramiel stirnrunzelnd.
Ich bemühte mich um eine undurchdringliche Miene. »Du wirst dich bis zum Tribunal gedulden müssen.«
Nathaniel ließ ein frustriertes Knurren hören.
Ramiel betrachtete mich einige Augenblicke. »Ich hoffe für uns alle, dass der Plan gut ist«, sagte er schließlich. »Ich frage die Erzengel.«
»Beeil dich«, sagte ich.
Ramiel nickte, und der bronzene Schimmer an meiner Seite verschwand.
Der Schild funktionierte.
Ich konnte es kaum glauben.
»Ist er gut?«, fragte Nathaniel leise, als wir allein waren. »Dein Plan?«
Der Hoffnungsschimmer in seinen Augen brachte mich um.
»Todsicher«, nickte ich, mit dem riesigen, elenden Loch dort, wo mein Magen sein sollte.
Ich warf einen Blick auf die tickende Wanduhr. Es war kurz nach 16 Uhr. Ich hatte etwas weniger als acht Stunden Zeit, um mir – wie würde Seraphela sagen? – einen todsicheren Plan aus dem Hintern zu ziehen, der die Erzengel davon überzeugen musste, Nathaniel freizusprechen.
Großartig.
JAGDSAISON
»Was hast du damit gemeint, als du sagtest, du wolltest Melindas Flügel stutzen? Oder ist das nur so eine Redensart bei euch?«
Nathaniels antwortete nicht sofort.
»Keine Redensart«, murmelte er schließlich. »Du weißt, dass Melinda … etwas Besonderes ist, oder?«
Ich nickte zögernd. War ich dabei, Melindas Geheimnis zu entdecken?
»Ist sie ein Mensch?«, fragte ich leise.
»Sie ist ein Mensch. Aber das war sie nicht immer.«
»Was meinst du damit?«
»Sie war früher anders«, sagte er leise. »Sie war eine von uns.«
»Sie war ein Engel ?«, fragte ich verwundert.
Nathaniel nickte nachdenklich. »Es ist lange her.«
»Und jetzt ist sie … was, ein Ex-Engel?«
Er lächelte schwach. »Sozusagen. Wir nennen sie ›Erdengänger‹.«
»Sie? Dann gibt es also mehrere?«
»Es gibt wenige. Die Erzengel halten nicht viel davon. Es ist schwer, unsere Geheimnisse zu bewahren, wenn einige von uns als Sterbliche herumlaufen.«
»Ist das der
Weitere Kostenlose Bücher