Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
mit angesehen hatten, nicht verarbeiten und nie vergessen. Wie viel furchtbarer musste es erst sein, die eigene Familie sterben zu sehen? Was konnte man einem Menschen sagen, der einen solchen Verlust erlitten hatte?
»Nicholas«, Pater Kevin legte dem Bürgermeister von New York City die Hand auf die Schulter, »ich kann mit Worten nicht ausdrücken, welch tiefes Mitgefühl ich für dich empfinde, und wie groß meine Trauer um Mary und Christopher ist.«
»Danke«, Nick seufzte.
»Ich möchte dir helfen. Sag mir, was ich tun kann.«
»Sie können mir nicht helfen, Pater«, Nick schüttelte den Kopf, »niemand kann das.«
»Die Wege des Herrn sind unergründlich, und wir Menschen können sie oft nicht verstehen. Aber nichts geschieht auf Gottes Erde ohne Grund.«
»Welchen Grund kann es geben, drei unschuldige Menschen sterben zu lassen?«, entgegnete Nick bitter.
»Niemand von uns kennt die Stunde seines Todes«, entgegnete der Pater sanft. »Der Herr hat Mary und Christopher zu sich geholt, weil es ihm gefallen hat. Sie sind nun bei ihm. Aber du, du musst weiterleben.«
»Muss ich das?« Nick wandte sein Gesicht wieder ab. »Es ist mir kein Trost, dass sie vielleicht im Himmel sind. Ich frage mich, ob es überhaupt einen Gott gibt, wenn er so etwas zulässt. Mary hat niemals jemandem etwas Böses angetan und doch hat Gott zugelassen, dass sie ... dass sie ...«
Er brach ab und fuhr sich mit seiner verbundenen Hand über das Gesicht.
»Selbst Jesus Christus hat in den Stunden der Angst und Hoffnungslosigkeit gezweifelt«, erwiderte der Pater. »Es liegt in der Natur des Menschen zu zweifeln, jeder tut das. Wer nicht zweifelt, kann auch nicht glauben.«
»Ich weiß nicht, ob das alles wahr ist. Ich weiß gar nichts mehr. Es hat doch alles keinen Sinn mehr.« Nick blickte den alten Freund an. »Ich wünschte, ich hätte den Mut, mich umzubringen.«
Der Pater schaute ihn ernst an, dann legte er seine Hände auf seine Schultern.
»Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen«, sagte er mit leiser Stimme, »einen Jungen, vor dem ich Respekt hatte, denn er hatte Mut. Er hatte Mut und eine große Vision, die wie ein heller Stern über seinem Weg geleuchtet hat. Der Junge hatte es nicht leicht. Er musste mitansehen, wie sein Vater starb, seine Brüder und seine Mutter. Aber er hat nie aufgegeben und er hat nie verstehen können, dass sein Vater sich aufgegeben hatte. Der Junge hat gekämpft, sein Leben lang.«
Nick verzog das Gesicht.
»Es ist nicht mehr dasselbe«, flüsterte er, »ich habe keine Kraft mehr.«
»Gott wird dir die Kraft geben, das zu ertragen, was er dir auferlegt hat. Auch wenn du im Augenblick nicht verstehen kannst, warum er zulassen konnte, dass Mary und Christopher sterben mussten.«
»Nein! Es gibt keinen Trost!«, erwiderte Nick heftig. »Nicht für mich! Ich bin schuld.«
»Du solltest zulassen, dass man dir hilft«, der Pater ließ ihn los und setzte sich auf den Rand des Bettes.
»Sie wollen, dass ich darüber spreche«, Nicks Stimme klang gequält, »und das kann ich nicht. Ich will nicht reden.«
»Die Ärzte machen sich große Sorgen. Und nicht nur sie. Die ganze Stadt trauert mit dir. Die Menschen warten vor dem Krankenhaus darauf, dass es dir besser geht, denn sie lieben dich und sie vertrauen dir. Du hast dich zu ihrem Vorbild gemacht, zu ihrem Stern, der sie leitet und ihnen Mut gibt.«
»Nein, nein, nein. Ich will das nicht hören. Ich will nicht, dass andere etwas von mir wollen. Ich will ... ich ...«
»Sie wollen dir helfen.«
»Verdammt! Was erwarten sie denn? Soll ich weinen und schreien und mir die Haare raufen?«
»Ja«, der Pater nickte langsam, »ich glaube, so etwas Ähnliches erwarten sie. Sie warten auf eine Reaktion von dir, an der sie erkennen können, dass du deinen Schock überwunden hast.«
»Ich habe keinen Schock. Ich kann einfach nicht weinen. In mir drin ist alles kalt und tot.«
»Weil du es nicht zulässt. Du hast Angst, die Kontrolle zu verlieren.«
Nick stand auf und trat ans Fenster.
»Das mag sein«, er zuckte die Schultern, »vielleicht habe ich Angst, durchzudrehen.«
Die beiden Männer schwiegen, während die Sonne hinter den Appartementhäusern der Westside auf der anderen Seite des Parks blutrot versank. Nick atmete schwer. Was konnte es nützen, wenn er über das Grauen sprach, das er immer wieder und wieder erlebte? Es würde nichts ändern. Ihm konnte niemand helfen, auch Gott nicht. Wie sollte er mit dem Gedanken weiterleben
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