Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
können, dass er allein Schuld am Tod dieser drei Menschen war? Seine Arroganz, sein Ehrgeiz und seine Besessenheit hatten ihnen den Tod gebracht, den eigentlich er verdient hatte. Weshalb hatte er auch nicht auf Marys Bitten gehört und Vitali einfach vergessen? Er hatte so viel erreicht und so großartige Erfolge gehabt, aber das war ihm nicht genug gewesen. Nein, erwar besessen gewesen von dem Gedanken, Vitali zu überführen. Voller Überheblichkeit hatte er geglaubt, er sei unverletzlich. Nun hatte ihn das Schicksal eines Besseren belehrt. Es hatte ihm das Liebste genommen, das er in seinem Leben gehabt hatte. Und die Strafe für seine Schuld würde die Qual sein und die Einsamkeit. Nein, es gab keinen Trost. Nicht für ihn. Aber das würde niemand verstehen.
»Ich liebe den Herrn«, sagte Pater Kevin in diesem Moment mit leiser Stimme, »er hört auf den Ruf meines Flehens. Er hat mir sein Ohr geneigt, am Tage, da ich zu ihm gerufen! Stricke des Todes umwanden mich, Schlingen der Hölle warfen sich über mich, versunken war ich in Angst und Qual. Da rief ich den Namen des Herrn: ›Rette, o Herr, mein Leben!‹ Gut ist der Herr und gerecht, voll Erbarmen ist unser Gott. Die schlichten Herzen behütet der Herr; ich war in Not, und er brachte mir Heil. So kehre denn, meine Seele, zu deiner Ruh’, der Herr hat Gutes an dir getan. Er hat mir die Seele vom Tode befreit, die Augen vom Weinen, die Füße vom Sturz. Ich darf noch wandeln vor Gott in der Lebendigen Land ...«
Nick hörte, wie die Bettfedern quietschten, als sich der alte Mann vom Rand des Bettes erhob. Der Jesuitenpater betrachtete ihn voller Mitgefühl und legte ihm wieder die Hand auf die Schulter.
»Wann immer dir danach zu Mute ist, mein Sohn, kannst du zu mir kommen«, sagte er, »aber lass nicht zu, dass sich dein Herz im Zorn gegen Gott verhärtet.«
Nick schwieg.
»Geh nicht strenger mit dir ins Gericht, als es selbst Gott tun würde«, der Pater richtete sich auf, »auch für dich wird die Sonne wieder scheinen. Der Herr in seiner Gnade wird dir helfen, wenn du ihn darum bittest.«
***
Der Chefarzt und die Oberärzte erwarteten den Jesuitenpater gespannt, als er das Krankenzimmer des prominentesten Patienten der Klinik verließ.
»Hat er mit Ihnen gesprochen?«, fragte Dr. Simmons.
»Ja«, erwiderte Pater Kevin O’Shaughnessy, »aber erwarten Sie nicht von ihm, dass er über das sprechen wird, was ihn quält. Das hat er noch nie getan, seitdem ich ihn kenne, und ich kenne ihn seit beinahe 40 Jahren. Es wird nichts nützen, wenn Sie ihn weiterhin hier behalten.«
»Sie meinen, wir sollten ihn einfach entlassen, obwohl er noch unter Schock steht?«
»Ja«, der Pater nickte, »im Übrigen bin ich nicht der Meinung, dass er unter Schock steht. Ich bin selbst Arzt und habe langjährige Erfahrung in der Behandlung psychisch gestörter und traumatisierter Menschen, besonders mit Soldaten, die aus Vietnam kamen. Nicholas Kostidis erinnert mich an diese Männer. Sein Verhalten weist alle Symptome einer verspäteten Trauerreaktion auf: gestörte Affektivität und scheinbar fehlende Betroffenheit. Aber in seinem Innern sieht es ganz anders aus.«
Die Ärzte sahen den Pater erstaunt an.
»Aber die Suizidgefahr!«, gab ein anderer Oberarzt zu bedenken. »Er hat mehrfach geäußert, dass er sich wünschte, er habe den Mut, sich umzubringen.«
»Das hat er zu mir auch gesagt«, bestätigte der Pater, »aber das nehme ich nicht ernst. Nick Kostidis neigt nicht zu Selbstmord. Er ist zwar momentan noch nicht in der Lage zu trauern, aber dazu kann man ihn nicht zwingen. Ja, er selbst kann sich nicht einmal dazu zwingen, obwohl er es versucht. Er gibt sich die Schuld am Tod seiner Familie, und das werden Sie ihm nicht ausreden können.«
»Vielleicht wäre es doch das Beste, ihn in ein Sanatorium ...«
»Um Himmels willen!«, unterbrach Pater Kevin den Oberarzt entgeistert. »Er ist doch nicht geisteskrank! Lassen Sie ihm Zeit, den Tod seiner Familie zu akzeptieren. Das Einzige, was ihm helfen kann, ist die Zeit. Er wird eines Tages damit zurechtkommen, das weiß ich.«
Die drei Oberärzte sahen sich ratlos an.
»Ich schließe mich Ihrer Meinung an, Pater«, entschied Chefarzt Professor Weiss schließlich. »Wir werden Mr Kostidis am Dienstag entlassen. Wir sollten respektieren, dass er nicht über etwas sprechen will, was noch so frisch und schmerzhaft ist. Vielleicht haben Sie Recht und die Zeit wird ihm helfen.«
***
Auf dem alten,
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