Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
gemeldet hatte. Seitdem sie von Cinnamon Island zurückgekehrt waren, hatte sich Sergio ihr gegenüber völlig verändert. Hatte er sich vorher manchmal dreimal am Tag bei ihr gemeldet, so rief er seitdem nur noch gelegentlich an, und auch das nur, wenn er mit ihr ins Bett gehen wollte. Alex konnte sich sein verändertes Verhalten nicht erklären, aber es kränkte und ärgerte sie maßlos, dass sie, die in ihrem Job so kompetent und mächtig war, sich von einem Mann derart demütigen ließ. Alex verließ die U-Bahn an der Ecke Broadway Achte Straße, kaufte beim Italiener Pasta und eine Flasche Brunello di Montalcino und überhörte stur das wiederholte Summen ihres Handys auf dem Weg zu ihrem Haus, nachdem sie mit einem Blick auf das Display festgestellt hatte, dass es Sergio war. Sie verspürte nicht die geringste Lust mit ihm zu sprechen. Als Ersatz für ein verhungertes, kuhäugigesModel war sie sich wahrhaftig zu schade. Sie bog um die Ecke und sah den Fahrradfahrer zu spät. Er bremste zwar noch, aber Vorderreifen und Lenker trafen sie unsanft an der Hüfte und am Ellbogen. Die Tüte mit den Nudeln und dem Wein rutschte ihr aus der Hand.
»Verdammt!«, fuhr sie den Fahrradfahrer an, der beinahe gestürzt wäre. »Können Sie nicht die Augen aufmachen?«
»Sie hätten ja auch mal gucken können, wohin Sie rennen!«
Alex kam die Stimme bekannt vor und sie sah den Mann genauer an. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie Oliver Skerritt erkannte.
»Ach, Sie sind’s«, sagte sie sarkastisch, »jagen Sie wieder einer Verschwörung hinterher, oder warum haben Sie’s so eilig?«
Da erkannte er sie auch und grinste.
»So ein Zufall«, sagte er. »Ehrlich gesagt wollte ich nur rüber zu Giovanni und mir was zu essen holen. Tut mir leid.«
»Mein Abendessen haben Sie auf jeden Fall gerade ruiniert.« Alex bückte sich, um die Scherben aufzuheben.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
»Danke, es geht schon. Aua!« Alex fluchte, als sie sich den Finger an einer Scherbe schnitt. Sie war wütend auf Sergio, müde und hungrig, und plötzlich stiegen ihr die Tränen in die Augen.
»Hier«, Oliver reichte ihr ein sauberes Papiertaschentuch, das sie sich um den blutenden Finger wickelte und machte sich daran, die Überreste ihres Abendessens zusammenzuklauben. Alex wischte sich die Tränen ab.
»Warum tun Sie das?«, fragte sie.
»Ich kann Mädchen nun mal nicht weinen sehen.« Er lächelte, sein Gesicht war auf gleicher Höhe mit ihrem. Sie stellte fest, dass er schöne Augen hatte. Er trug die Haare kürzer als noch vor ein paar Wochen und war bei genauer Betrachtung ziemlich attraktiv.
»Ich weine nicht mehr«, antwortete sie, »aber ich muss mir jetzt noch etwas zu essen holen.«
»Wenn Sie mögen, lade ich Sie zu einer Portion Tagliatelle al Salmone drüben bei Giovanni ein«, Oliver richtete sich auf, »als Schadenersatz sozusagen.«
Alex musterte ihn einen Moment misstrauisch, dann zuckte sie die Schultern. Sie hatte keine Lust, alleine in ihrer Wohnung zu hocken, bis womöglich noch Sergio auftauchte, weil sie nicht ans Telefon ging.
»Ich habe wirklich Hunger«, sagte sie, »aber ich habe keine Lust, mir den ganzen Abend Ihre abstrusen Verschwörungstheorien anzuhören.«
Oliver warf ihr einen amüsierten Blick zu, dann machte er ein ernstes Gesicht.
»Ich schwöre«, er hob die Hand wie zu einem Schwur, »dass ich LMI oder Gilbert Shanahan mit keinem Wort erwähnen werde.«
»Okay«, Alex musste wider Willen lächeln, »überredet. Aber wenn Sie einen Ton sagen, stehe ich auf und verschwinde auf der Stelle.«
»Das würde ich niemals riskieren«, erwiderte Oliver und hob sein Fahrrad auf. »Ich bin zwar mit Leib und Seele Journalist, aber ich bin kein Idiot.«
Das war er tatsächlich nicht. Er war sogar ausgesprochen unterhaltsam und besaß jede Menge Humor. Bei einer Riesenportion Pasta und einer Flasche Chianti erzählte er von seiner Jugend in Maine, wo sein Vater mehrere Fischkutter besaß, von seinem Studium in Harvard und Europa. Er hatte eine Weile in Paris, London, Frankfurt und Rom gelebt und gearbeitet, und schon bald sprachen Alex und er über Frankfurt, bestellten noch eine zweite Flasche Chianti und dann eine dritte. Alex hatte ihr Handy ausgeschaltet und war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war. Es war nach Mitternacht, als sie das Lokal verließen. Oliver hatte sein Versprechen gehalten und kein Wort über LMI und Shanahan gesagt. Alex hatte einige Mühe geradeaus zu laufen und
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