Unter Haien - Neuhaus, N: Unter Haien
Manchmal war es geradezu beängstigend zu sehen, wie er nach fünf Stunden Schlaf voller Tatendrang in seinem Büro auftauchte und ein Tempo vorlegte, bei dem selbst beträchtlich jüngeren Mitarbeitern die Luft ausging. Nick Kostidis stellte hohe Ansprüche an seine Leute, er war hart und mutig und bereit, alles zu geben. Außerdem besaß er einen sicheren Instinkt für Marketing und konnte sehr gut mit den Vertretern der Medien umgehen. Geschickt bediente er sich der Presse und scheute nicht davor zurück, seine Meinung unverblümt vor laufender Kamera zu äußern. Ein großer Teil der Bevölkerung von New York City liebte ihn dafür, aber es gab auch viele Menschen, die ihn hassten, weil er ihre lukrativen, aber häufig illegalen Geschäfte bedrohte. Frank war im Laufe der Jahre zu der Erkenntnis gelangt, dass man Nick Kostidis entweder hassen oder lieben musste, zumindest konnte man ihm, wenn man ihn einmal kennen gelernt hatte, nicht gleichgültig gegenüberstehen. Frank hatte es nie bereut, dass er nicht auch Rechtsanwalt geworden war wie sein Vater und seine Brüder. Das Schicksal hatte ihn mit Nick Kostidis bekannt gemacht und Frank war dafür dankbar. Zwar war sein Job stressig, nicht sonderlich gut bezahlt und hatte auch eigentlich nichts mehr mit dem zu tun, was er auf der Uni gelernt hatte, aber als engster Mitarbeiter des Bürgermeisters von New York City hielt jeder Tag neue Herausforderungen und Aufgaben für ihn bereit. Bei seiner Arbeitwurde Frank mit den unglaublichen Gipfeln und Abgründen des Lebens konfrontiert, wie es sie nur in einer Metropole wie New York geben konnte. Reichtum und Elend, Verbrechen und Wohltätigkeit, grenzenloser Egoismus und herzerwärmende Großzügigkeit, Korruption, Betrug, Ärger und Freude wechselten sich in rascher Folge ab wie ein Kaleidoskop. Manchmal empfand er seine Arbeit als bedrückend und frustrierend, und oft glaubte er, in einem erstickenden Sumpf zu stecken, doch es gab immer wieder Lichtblicke, die ihn weitermachen ließen. Der größte Lichtblick aber war Nick Kostidis, dieser unglaubliche Mann, der über der Politik niemals die Menschlichkeit vergaß. Frank hätte Nick bei seinem unermüdlichen Einsatz im Kampf für die Verbesserung der Situation der Menschen in New York nie im Stich gelassen. Darüber dachte er nach, als das Telefon klingelte.
»Büro des Bürgermeisters, guten Abend«, meldete er sich.
»Ihr seid ja noch da«, sagte eine unangenehme schnarrende Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Hallo, Mr McDeere«, Frank schloss die müden Augen, »was gibt’s noch so spät am Abend?«
Truman McDeere war FBI-Beamter und mit der Bewachung des wichtigen Kronzeugen David Zuckerman beauftragt. Frank mochte den glatzköpfigen Mann mit dem verbissenen Gesichtsausdruck und der gelblichen Gesichtsfarbe eines Leberkranken nicht. Er hatte ihn damals bei der Anklage gegen die Mafiabosse der Stadt kennen gelernt und war froh, als die Zusammenarbeit mit dem Beginn der Gerichtsverfahren beendet war.
»Wo kann ich den Bürgermeister erreichen?«
»Er ist heute Abend privat unterwegs. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Ich muss ihn unbedingt sprechen. Es ist etwas passiert, was er erfahren sollte.«
Es war sehr ungewöhnlich, dass der arrogante McDeere so verlegen herumstotterte, und in Frank machte sich ein ungutes Gefühl breit.
»Ist etwas mit Zuckerman passiert?«, fragte er und öffnete die Augen.
»Herrgott, ja! Er ist tot. Und das, obwohl wir 15 Mann in dem beschissenen Hotel haben!«
»Oh Gott!« Frank sprang so heftig auf, dass er sich sein Knie an der Schreibtischschublade stieß. »Das ist nicht wahr, oder? War es Selbstmord?«
»Nein«, McDeere klang kleinlaut, »er wurde erschossen. Mit einer 45er mit Schalldämpfer.«
»Scheiße«, Frank sank auf seinen Stuhl und rieb sich das schmerzende Knie. Seine Gedanken rasten. Nick hatte alle Hoffnungen auf Zuckermans Aussage gesetzt. Er war todsicher gewesen, dass er mit Hilfe dieses Mannes endlich an Sergio Vitali herankommen konnte. Zuckerman hatte in den Monaten im Gefängnis seine anfängliche Überheblichkeit verloren und in den letzten Wochen war er regelrecht zusammengefallen. Gestern Nacht hatte er sich überraschend zu einer umfassenden Aussage vor der Grand Jury entschlossen. Er hatte angekündigt, über den Korruptionsskandal beim Bau des World Financial Center zu reden, der damals mangels Beweisen im Sande verlaufen war. Zuckerman hatte wie ein Wasserfall von Bestechung und
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