Unter Korsaren verschollen
Glanz und Pracht: den Himmel, die Berge, die Pflanzen, den gelben Sand, die nicht anders sind wie immer. Livio ist frei; das hat die Welt verändert
– nur Selim nicht.
Was ist mit ihm? Ah…!
»Und du kommst mit mir nach Italien, in meine Heimat, als mein Freund!«
»Luigi! Ist das wahr?«
»Lügt El-Fransi…?«
Selims schneeweiße Zähne glänzen wie Perlmutt, als er jetzt in ein helles fröhliches Lachen ausbricht. »Nein, nein, El-Fransi spricht nie eine Unwahrheit. – Ist Italien anders als Algerien?«
»Meine Heimatstadt Genua ähnelt in manchem Algier.
Sie liegt am Meer, ebenso terrassenförmig gebaut wie die Stadt der Türken, Berge erheben sich in ihrem Rük-ken, aber – dort werden dich die Menschen nicht hassen.
Komm, Selim, komm mit!«
Der Wettlauf der Kinder ist vergessen. Trotzdem rennen die Freunde. Parvisi drängt es, mehr über das große Ereignis zu erfahren, da der Neger nur einen Teil des Berichts der Fremden angehört hat, der ihm aber genügte und auch dem Freund vorerst das Wichtigste sein würde.
Die kleinen Läufer erwarten die beiden Männer am Dorfeingang. »Ich war der erste!« – »Ich auch!« – »Und ich ebenso!« Die Sieger drängen sich heran. »Was gibst du uns, El-Fransi? Sag es schnell!«
Parvisi hat noch nicht darüber nachgedacht. Aber jetzt muß es sein, sonst lassen ihn die Peiniger nicht aus ihrem Kreis. »Fünf Zechinen jedem. Da sind sie.«
Jubelgeschrei. Pläne werden geschmiedet, was man mit dem Geld anfangen wird. Vergessen ist plötzlich der Jäger.
Die Männer des Dorfes sitzen zusammen. In ihrer Mitte zwei Fremde. Das sind die Freudenbringer.
»Setz dich zu uns, Freund, und höre, was geschehen ist«, fordert das Dorfoberhaupt Parvisi auf.
»Freund? Freund nennst du diesen Mann, o Scheik?
Das ist einer von denen, die Algier dem Erdboden gleichgemacht haben!«
Der Sprecher springt auf, zieht eine seiner beiden Pistolen. Der Schuß kracht.
Parvisi liegt am Boden.
»Was hast du getan, du Unseliger? Weißt du nicht, wer dieser Mann ist?«
Alle sind aufgeschnellt. Selim stürzt zu dem Freund.
»Ein verfluchter Christ, wer sonst?« Der Schütze steht furchtlos zwischen den wildfuchtelnden Berbern.
»Daß dich Allah verdamme! El-Fransi hast du erschossen!«
»El-Fransi?« Der Mann ist erschüttert. Wenn er den be-rühmten Jäger auch nicht von Angesicht zu Angesicht kennt, gehört hat er natürlich von ihm.
Der Schuß ist dem Italiener in die linke Schulter gegangen. Selim hat dem Verwundeten bereits das blutige Hemd herabgerissen; Luigi ist bewußtlos.
Der Neger überlegt. Dann zieht er das Messer heraus und schneidet kaltblütig die Kugel aus der Wunde. Parvisi brüllt auf vor Schmerz und fällt wieder ohnmächtig zurück.
Als Selim nach Stunden das Lager des Freundes verläßt, um sich genauer über die Geschehnisse in Algier zu unterrichten, vielleicht noch Einzelheiten durch geschicktes Fragen zu erfahren, da muß er feststellen, daß die beiden Fremden bereits über alle Berge sind. Man hat sie davongejagt.
Die Eingeborenen hatten die Nachricht mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Sie gönnen dem Dey und seinen Helfershelfern die Niederlage, haben kein Mitleid mit den Gestürzten. Andererseits waren es Ungläubige, die Rechtgläubige – und die Türken sind ja Mohammedaner – mit der Waffe zu Boden gerungen haben. Man wartet ab, was nun geschehen wird. Ob die Sieger Herren des Landes werden? Das möge Allah verhüten! Sie würden schlimmer als die Türken sein. Nein. Allah wird es
nicht zulassen, daß seine Getreuen sich vor ihnen beugen müssen. Noch ist es nicht soweit, wenn aber, dann wird ein Gesandter des Allmächtigen die Gläubigen zum Heiligen Krieg aufrufen. Algerien ist groß, seine him-melstrebenden Berge bieten unzählige Schlupfwinkel für Kämpfer um die Freiheit. Die Freiheit! Man wird, wenn nötig, das Leben dafür hingeben, denn sie wäre durch Ungläubige bedroht.
Die Männer sind fort. Selim erfährt nicht mehr, als er schon weiß.
Er erfährt nichts davon, daß eines Tages England beschlossen hatte, mit dem Dey über eine Anerkennung der Ionischen Inseln an der Westküste Griechenlands als englischen Besitz zu verhandeln und für ein dem englischen Konsul durch den Dey angetanes Unrecht Genugtuung zu fordern. Das Vereinigte Königreich, die größte Seemacht der Zeit, hatte bisher nichts gegen das Unwesen der Korsaren unternommen. Warum auch? Ungewollt war ja der Herrscher von Algier Handlanger für die
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