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Unter Menschen

Unter Menschen

Titel: Unter Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabell Schmitt-Egner
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zurechnungsfähig zu sein.
     
     
    Ironie des Schicksals, wenn ich ihn jetzt tatsächlich rette, dachte Neill.
    „Sam!“ Er rüttelte den blonden Jungen an der Schulter. „Wir müssen auf der Stelle verschwinden! Die Flut kommt.“
    Sam öffnete die Augen und die wirkten gar nicht abwesend. Wach, fast schon katzenhaft, unmenschlich. Sam stieß einen Laut aus, den Neill noch nie gehört hatte. Es erinnerte ihn entfernt an etwas, aber er konnte es nicht einordnen.
    „Wir müssen weg, komm Sam, los!“ Er fasste Sam wieder am Arm. Sam riss sich los und fauchte wie ein gereiztes Tier.
    „Scheiße“, flüsterte Neill. Da hatte er sich vielleicht was eingebrockt. Sam drehte durch und er stand hilflos daneben. Und da war noch etwas. Er fühlte Furcht. Eine unerklärliche Angst vor dem Jungen, der da vor ihm stand, den er hatte demütigen wollen. Nicht einmal ansatzweise hatte er geahnt, wie verrückt Sam war. Kein Wunder, dass er Haus und Gartenarrest verordnet bekam. Sam warf ihm einen wilden Blick aus leuchtend grünen Augen zu und spannte alle Muskeln.
    Jetzt stürzt er sich auf mich, dieser Wahnsinnige , dachte Neill.
    Und Sam sprang. Er flog mit einem Hechtsprung ins Wasser und verschwand in weißem Meeresschaum. Wie betäubt starrte Neill ihm hinterher.
    Der ist tot, dachte er. Der ist tot. Mehr konnte er nicht denken. Die Situation war zu surreal. Neill sah sich um. Tiefes Wasser umzingelte ihn. Die Flut war da.
     
     
    Wie ein Rausch umschloss das Wasser seinen Körper. Die Wellen empfingen ihn wie ein lange vermisstes Kind und warfen ihn hin und her. Sam ließ sich treiben und sirrte, als die Flut ihn ins Meer hinaus zog. Sein Körper forderte die Rückverwandlung ein und er entledigte sich seiner Kleidung. Das Sternzeichen um seinen Hals behielt er an. Die Kraft des Meerwassers strömte in ihn. Er spürte fast keinen Schmerz, als seine Füße sich zu Flossen formten. Das ständige Training unter schlechten Bedingungen im Haus der Cunnings, wo er sich mindestens zweimal täglich der Umwandlung unterzog, zahlte sich nun aus. Mit der Energie, die das brausende Meerwasser im spendete, erschien ihm die Verwandlung spielend leicht. Das war ihm schon bei dem letzten Übungsschwimmen mit George aufgefallen, aber heute fühlte es sich noch besser an. Sam ließ sich ein Stück Richtung Ufer tragen und sank in eine Mulde, in der er vor den Wellen halbwegs sicher war. Er brauchte nicht mehr lange, dann konnte er sich mit den Wellen messen, ihr Spiel mitspielen. Er sirrte glücklich. Sein Blick wanderte nach oben und er sah Neills Beine bis zu den Knien. Der Rest von Neill befand sich noch oberhalb der Wasseroberfläche. Sam sirrte und wühlte mit den Händen den Sand etwas auf. Er fühlte sich herrlich wild und frei, kräftig. Seine Beine schlossen sich von oben nach unten. Es ging schneller als sonst. Seine Flosse, fast vollendet.
    In dem Moment wurde Neill von einer Welle erfasst und Sam sah den Körper des Menschen, der ins wilde Meer gerissen wurde. Sam löste sich vom Grund und stieg nach oben. Er warf sich gegen eine Wasserwand, die sich vor ihm auftürmte und fauchte begeistert, als er den Widerstand spürte. Der zappelnde Mensch in seiner Nähe kam wieder an die Oberfläche und Sam hörte ihn schreien. Er sirrte und tauchte unter ihm entlang. Das Meer trieb sein wüstes Spiel mit dem Menschen und Sam fühlte, wie falsch es war, dass dieses unbeholfene Wesen da oben zappelte wie ein kranker Fisch. Es war kein Meeresgeschöpf und gehörte nicht hierher. Das Zappeln störte den Rhythmus der Wellen, wie ein lästiges, andauerndes Geräusch. Unter Wasser würde der Mensch still sein und das Wellenlied nicht mehr stören. Er schwamm einen Kreis um die Position seiner Beute und zog die Kreise dann langsam immer enger.
     
     
    „Hast du Sam gesehen?“, fragte George, als er die Treppe hinunter kam.
    „Er müsste oben bei Neill sein“, rief Vivian aus dem Wohnzimmer.
    „Bei Neill?“ George konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Er drehte auf dem Absatz um und ging wieder nach oben. An Neills Tür klopfte er kurz und trat dann ein. Das Zimmer war leer. Unten hörte er die Haustür.
    Er sah Bill und Laine den Flur betreten, als er wieder im Erdgeschoss ankam und fragte die beiden sofort, ob sie Sam und Neill in der Einfahrt oder im Vorgarten gesehen hätten. Als beide verneinten, machte sich ein ungutes Gefühl in Georges Magengegend breit.
    „Wir müssen die beiden suchen. Ich gehe in den Keller, einer oben,

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