Unter Verdacht
rührte sie in ihrem Cappuccino und dachte über Sylvias abrupten Aufbruch von eben nach.
Es war also, wie sie vermutet hatte. Sylvia war befangen! Und wahrscheinlich nicht im geringsten an ihr interessiert. Nicht auf die Art! Und falls doch, würde sie es nie zugeben!
Karen seufzte. Tolle Taktik – langsam vortasten und sich zurückziehen, wenn es nicht klappt. Du hast dich vorgetastet wie eine Dampfwalze! Und was den Rückzug betraf, dazu war es längst zu spät. Sie konnte es nicht länger leugnen: Ihre gelegentlichen Flirts mit Sylvia, ihre provokative Bemerkung, das alles hatte nichts mit dosiertem, kontrolliertem Vorfühlen gemein, sondern basierte auf einem realen Gefühl. Einem in diesem Moment sehr enttäuschtem Gefühl.
»Deinem Gesicht kann ich ansehen, dass es mal wieder Sylvia ist, die dich beschäftigt«, stellte Ellen fest. »Warum gibst du nicht endlich zu, dass du in sie verliebt bist?«
»Weil es nicht stimmt!« entgegnete Karen wider besseres Wissen.
»Warum glaube ich dir nicht?«
»Und«, setzte Karen eingedenk Sylvias verängstigter Reaktionen hinzu, »es hätte auch gar keinen Sinn. Sylvia geht seit neuestem auf Distanz zu mir.«
»Was hast du angestellt?« fragte Ellen trocken.
»Das ist wieder mal typisch. Warum muss ich immer schuld sein?«
»Was ist passiert?« korrigierte Ellen ihre Frage lächelnd.
»Zusammengefasst? Ich habe sie gefragt, ob sie Angst vor mir hat, und sie hat ja gesagt.«
»Das kann die verschiedensten Gründe haben. Vielleicht fühlt sie sich zu dir hingezogen, und das erschreckt sie.«
»Bin ich ein Monster, dass man vor mir erschreckt?«
»Du weißt, was ich meine.«
»Ja, und ich weiß auch, dass ich nicht auf eine komplizierte Beziehung mit einer Frau aus bin, die vor ihren Gefühlen davonläuft. Das hatte ich schon, und bin geheilt.«
»Erstens ist das keine Frage der Heilung, das weißt du genauso gut wie ich. Und zweitens kannst du nicht von Michaela auf alle anderen Frauen schließen. Karen! Geh auf Sylvia zu, nimm sie in die Arme und küsse sie. Wenn sie nicht Vergewaltigung! schreit, hast du gute Chancen.«
Karen winkte betrübt ab.
Ellen schüttelte den Kopf über ihre Schwester. »Was Sylvia alles für dich tut, tut man nicht für jemanden, den man nicht mag. Ohne ihr beherztes Eingreifen könnte ich dich immer noch in Haft besuchen. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wenn Gregor mehr Zeit allein in der Firma gehabt hätte. Die beste Art, seine Spuren zu verwischen, wäre nämlich ohne Zweifel die, die Firma in den Konkurs zu treiben.«
»Aber die Kuh, die man melkt, sticht man nicht ab!« warf Karen ein.
»Wieso? Die Kuh, wie du es so schön sagst, war in diesem Fall sowieso schon klapprig und krank. Was spricht also dagegen? Ist doch kein schlechter Plan: abzocken, pleite fahren und verschwinden? Vielleicht hat Gregors Vorgehen ja sogar Methode?«
Karen starrte ihre Schwester an. »Ellen, du bist ein Genie!« rief sie und rannte zum Telefon. Werner Mehring versprach, sich nach ähnlichen Fällen umzuhören.
17.
K aren sah aus dem kleinen Bullauge auf die weißen Wolken. Die Sonne blendete. Unten zogen Städte und Landschaften in Spielzeuggröße vorbei.
Der Anruf von Reeder und die Bitte nach München zu kommen, war überraschend gewesen. Am Telefon sprach er nur von einer Statussitzung. Aber Karen spürte, dass irgend etwas in der Luft lag. Nur was? Am Flughafen hatte sie Sylvia getroffen und erfahren, dass sie ebenso überraschend geordert worden war.
Der Flug nach München dauerte etwa eine Stunde. Karen bemühte sich um ein Gespräch mit Sylvia, doch die flüchtete sich in Schläfrigkeit und beschränkte die Unterhaltung auf wenige, nichtssagende Worte. Karen seufzte innerlich. Sylvias neue Taktik war die alte: Sie zog sich in sich zurück. Karen akzeptierte es. Sie wollte Sylvia nicht bedrängen. Das hatte sowieso keinen Sinn.
Vom Flugplatz nahmen sie ein Taxi zu Kießling. Reeder empfing sie in einem der Büros, hielt sich jedoch bedeckt. Er führte sie zum Tagungsraum, wo man schon auf die Neuankömmlinge wartete. Nach ein paar einleitenden Worten blickte Reeder Karen aufmunternd an und bat: »Bitte geben Sie uns doch einen kurzen Überblick, Frau Candela.«
Karen zog ein kurzes Resümee über den bisherigen Verlauf, beschrieb den aktuellen Stand des Projektes und zeigte die nächsten Meilensteine auf. Die anschließenden Fragen der Vertreter von Kießling beantwortete sie so präzise wie möglich, ohne
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