Unter Verdacht
um. Einen Moment lang trafen sich ihre Augen. Sylvia senkte schnell den Blick.
Als Karen mit der Weinflasche zurückkam, hatte sich Sylvia gerade so weit in der Gewalt, dass sie ohne zu erröten ein leises »Danke« hauchen konnte, während Karen ihr Wein nachschenkte.
Schon zum zweiten Mal an diesem Abend fühlte Sylvia sich befangen. Sie fragte sich, warum sie so reagierte. Und natürlich blieb Karen ihre Verlegenheit nicht verborgen. Auch wenn sie so höflich war, es nicht weiter zu kommentieren.
»Ich glaube, der Wein hat mich müde gemacht«, meinte Sylvia schließlich. Sie wollte sich zurückziehen, bevor ihre Gefühle sich in ein Chaos verstrickten.
»Das Bett im Gästezimmer steht zu Ihrer Verfügung«, sagte Karen und erhob sich. »Sie wissen ja, wo Sie die Zahnbürste finden und was Sie sonst noch brauchen.«
»Danke. Ich kann mir aber auch ein Taxi nehmen. Vielleicht möchten Sie jetzt lieber allein sein.«
»Nein, das möchte ich nicht, Sylvia. Im Gegenteil. Ich weiß Sie gern in meiner Nähe.« Karen lächelte.
Es war eine harmlose Bemerkung – die ausreichte, um Sylvia erneut die Röte ins Gesicht steigen zu lassen. Sich dessen bewusst, flüchtete Sylvia ins Bad. Verdammt noch mal, was war bloß los mit ihr? Demnächst wurde sie noch rot, wenn Karen vom Wetter sprach. Sylvia bürstete sich wütend die Zähne. Was musste Karen über sie denken? Wahrscheinlich amüsierte sie sich köstlich. Sylvia sah in den Spiegel. Sie betrachtete ihre hohen Wangenknochen, die schmale Nase, das etwas wilde Haar. Könnte Karen sich in eine Frau wie sie verlieben? Als Sylvia sich bei diesem Gedanken ertappte, schüttelte sie den Kopf. Du musst verrückt sein! Sie trocknete sich das Gesicht ab, sah noch einmal in den Spiegel und streckte sich selbst die Zunge raus. Dann verließ sie das Badezimmer.
»Das Bad ist frei«, rief sie.
»Schlafen Sie gut«, kam Karens Antwort aus der Küche.
»Danke, gute Nacht.«
Als Sylvia im Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen. Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Je länger sie das Knäuel zu entwirren versuchte, desto mehr verstrickte sie sich. Schließlich fiel sie in einen unruhigen Halbschlaf.
16.
S ylvia wachte auf. Zerschlagen und mit einem Kopf voller Watte. In diesem Moment wurde ihr klar, dass alles nur ein Traum gewesen war. Und was für einer! Sie war immer noch benommen. Der Ausdruck »erotisch« war weit untertrieben, um zu beschreiben, was sie in ihrem Traum erlebt hatte. Es waren nicht nur ein schüchterner Kuss und eine zarte Berührung, es war alles gewesen! Und es war eine Frau gewesen, mit der sie das alles erlebt hatte. Nicht irgendeine Frau, sondern Karen!
Das Frühstück war schon fertig, als Sylvia hinunterkam. Karen saß am Esstisch. »Guten Morgen. Gut geschlafen?« fragte sie munter.
»So là là.« Sylvia ließ sich auf den freien Stuhl fallen. Der Versuch, mit dem Kaffee ihre Lebensgeister zu wecken, glückte einigermaßen.
»Wir müssen etwas klären, Sylvia.« Karen wartete, dass Sylvia sie ansah.
»Was denn?« Sylvia tat ahnungslos.
»Sie wissen, was ich meine«, sagte Karen eindringlich. Und mit trauriger Stimme setzte sie hinzu: »Sie sind befangen mir gegenüber.«
Sylvia schwieg.
»Sylvia, ich gebe zu, Sie wirken durchaus attraktiv auf mich. Vielleicht sogar mehr als das. Trotzdem, vermuten Sie bitte nicht hinter jeder kleinen Geste eine Anzüglichkeit oder gar den Versuch, Sie in mich verliebt zu machen. Ich werde es Ihnen sagen, wenn ich versuche, Sie zu verführen.«
Sylvias Empfindungen bei Karens letztem Satz waren verheerend. Sie fühlte ihre Wangen und Ohren glühen!
»Sylvia!« Karen schüttelte den Kopf. »Was haben Sie für ein Problem?«
Eine gute Frage. Es war angebracht, etwas zu erwidern. Aber was? Sylvia überlegte fieberhaft. Dann stammelte sie hilflos: »Ich weiß es nicht, ehrlich. Ich mag Sie. Und ich freue mich, dass wir so . . . aber Sie . . . Ihre Nähe macht mich – nervös.«
»Haben Sie Angst, ich könnte mich in Sie verlieben?« fragte Karen jetzt.
»Vielleicht habe ich eher Angst, ich könnte mich in Sie verlieben«, entgegnete Sylvia unsicher.
Was? Karen sah Sylvia verdattert an. Was sagte sie da? Meinte sie das ernst? »Und was wäre so schlimm daran?« fragte Karen vorsichtig.
»Ich . . . ich bin doch nicht lesbisch.«
»Verstehe.« Karen grinste über Sylvias naiven Ausbruch. »Sie haben ein Definitionsproblem.«
»Sie machen sich lustig über mich.«
»Entschuldigen Sie.
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