Unter Verdacht
mindestens drei, vier Tage zu Hause im Bett bleiben. Und danach sollte sie es langsam angehen lassen.«
»Kann ich sie kurz sehen?« fragte Sylvia.
Der Arzt nickte. »Aber bitte wirklich nur kurz. Sie soll gleich verlegt werden.«
»Danke.« Sylvia öffnete die Tür zum Behandlungszimmer, in dem Karen lag. Beim Anblick von Karens blassem Gesicht drehte es Sylvia den Magen um. »Hallo, meine Lebensretterin.« Karens Stimme klang immer noch schwach.
Sylvia ging zu Karen und nahm ihre Hand. »Verdammt, ich hatte eine Heidenangst.« Sylvia war zu aufgewühlt, um vorsichtig zu sein. Sie streichelte mit dem Daumen Karens Handrücken und fuhr mit der anderen Hand zart über Karens Wange. Überrascht von der Zärtlichkeit schloss Karen die Augen. Sie genoss die Berührung. Dafür würde sie alle Kopfschmerzen der Welt in Kauf nehmen.
»Bei dieser Fürsorge lasse ich mich gleich noch mal anfahren«, rutschte es ihr auch prompt heraus.
Sylvia zog irritiert die Hand zurück. Ihre Verlegenheit überspielend, meinte sie schnippisch: »Ich werde der Schwester Bescheid sagen. Sie ist gute fünfzig und mehr als stämmig. Sicher hat sie Zeit und Verständnis für Ihren Wunsch nach Aufmerksamkeit.« Sylvia grinste. Die Beschreibung der Schwester war frei erfunden, aber ihre Worte zeigten Wirkung.
Karen verzog das Gesicht. »Bei näherer Überlegung möchte ich doch lieber nach Hause.«
»Der Arzt sagt, Sie bleiben eine Nacht zur Beobachtung. Rufen Sie mich morgen an, wenn Sie entlassen werden. Ich hole Sie ab.«
»Das ist nicht nötig. Ich kann ein Taxi nehmen. Sie müssen sich keine Umstände machen«, wandte Karen ein.
»Das sind keine Umstände. Bis morgen«, erwiderte Sylvia resolut, stand auf und verließ den Raum. Karen sah ihr nach und lächelte.
Sylvia holte Karen am nächsten Nachmittag aus dem Krankenhaus ab und brachte sie nach Hause. Sie sorgte dafür, dass Karen der Ruheempfehlung des Arztes auch wirklich Folge leistete, indem sie sie, deren Protest ignorierend, auf die Couch verfrachtete. Dort lag Karen jetzt, eingehüllt in einer Decke, Tee und Zwieback neben sich auf dem Tisch.
»Hier bleiben Sie liegen und rühren sich nicht«, befahl Sylvia.
»Geben Sie mir wenigstens ein Buch«, flehte Karen.
»Sie wissen ganz genau, dass Ihnen nach wenigen Sekunden schwindelig wird, bei dem Versuch zu lesen«, erinnerte Sylvia sie.
Karen seufzte ergeben und sah hinaus in den Garten.
Sylvia ging in die Küche, schaute in den Kühlschrank und erstellte im Kopf eine Einkaufsliste.
Zurück im Wohnzimmer setzte sie sich zu Karen und mahnte eindringlich: »Karen, reden wir nicht lange drum herum. Ich weiß, Sie warten nur darauf, dass ich gehe, um dann Dummheiten zu machen. Es würde mich wundern, wenn Sie hier still liegenbleiben und vernünftigerweise tun, was der Arzt Ihnen geraten hat, nämlich sich auszuruhen. Deshalb sage ich Ihnen, und wehe, ich kriege mit, dass Sie sich nicht daran halten: Vergessen Sie alles, was mit Arbeit zu tun hat, für die nächsten drei Tage. Keine Anrufe aus der Firma, und Sie rufen auch nicht dort an. Keine Faxe. Keine Unterlagen bringen lassen. Kurzum: keine Arbeit!«
»Das ist nicht Ihr Ernst«, protestierte Karen.
»Mein absoluter Ernst«, bestätigte Sylvia streng. Dann lächelte sie Karen an. »Tun Sie mir den Gefallen. Kurieren Sie sich richtig aus. Verschleppen Sie die Sache nicht. Mit Kopfverletzungen ist nicht zu spaßen. Wenn Sie einverstanden sind, rede ich mit Frau Stahmann. Sie soll bei buchhalterischen Belangen auf Reimann verweisen und bei technischen Klärungen soll der jeweilige Projektleiter entscheiden. Dazu sind die Leute da. Ihre eigenen Projekte werden eben mal liegenbleiben müssen.«
»Ja, Frau Professor«, sagte Karen jetzt wie ein folgsames Kind.
Sylvia grinste. »Und wenn Sie schön artig sind, komme ich abends vorbei und koche ein wenig für Sie.«
»Und wenn nicht?«
»Gibt es weiter Tee und Zwieback.«
Karen verzog schmollend das Gesicht.
Sylvia hielt ihr Versprechen. Sie besuchte Karen am Abend, nachdem sie in der Uni fertig war. Auch den darauffolgenden Tag und den nächsten. Warum Sylvia Karen jeden Tag besuchte, darüber dachte sie nicht nach. Es hatte sich einfach so ergeben. Und sie freute sich auf die Besuche. Sie aßen gemeinsam etwas, und anschließend saßen sie zusammen. Mal waren ihre Gespräche ernst, mal lachten sie ausgelassen miteinander. Und jedesmal bedauerte Sylvia es, wenn es an der Zeit war zu gehen.
Heute, am Samstag, kam
Weitere Kostenlose Bücher