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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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unverheirateten Frauen auf die von Kälte und sexueller Not verwüstete Gegend ausübte, um die Bar zu füllen, selbst mitten im Winter. Keine von ihnen wehrte ab. Sie studierten Fächer, die sie nicht besonders mochten und von denen sie wussten, dass sie zu nichts führen würden, oder aber sie hatten sich bereits davon verabschiedet, sie wagten nicht mehr, irgendwelche Pläne zu schmieden, sie lebten in freudlosen Städten, deren Hässlichkeit sie traurig stimmte und wo niemand wirklich auf sie wartete, sie wussten, dass die Hässlichkeit sich bald in ihren Seelen niederlassen würde, um sich ihrer zu bemächtigen, sie hatten sich dem schon gefügt, und gut möglich, dass es die Arglosigkeit ihrer eroberten Seelen, der magnetische Pol ihrer Verletzlichkeit war, die Libero und Matthieu unfehlbar zu jeder Einzelnen von ihnen geleitet hatte, Agnès, die am Strand sitzend selbst gedrehte Zigaretten geraucht hatte, abseits der Tänzer und der Theke, Rym und Sarah, die sich ein Soda geteilt hatten bei der Wahl zur Miss Camping, und Izaskun, der ihr Freund eben erst den Laufpass gegeben hatte und sie hier, obgleich sie kaum Französisch sprach, allein in ihren Ferien hatte sitzen lassen, und die nun mit ihrem Rucksack in einer ärmlichen Nachtbar darauf gewartet hatte, dass es endlich Tag werden wollte, und so war es ihnen egal, dass sie zu fünft die Wohnung oberhalb der Bar würden teilen müssen, auch die auf dem Boden liegenden Matratzen und das enge Zusammenleben waren ihnen egal, hatten sie im Dorf doch die glücklichsten Wochen ihrer Existenz verbracht, sie hatten einen Faden gesponnen, den sie noch nicht kappen wollten, eine unstrittige Verbindung, deren Präsenz auch Matthieu nun spürte, an diesem Abend beim gemeinsamen Essen. Das erste Mal seit geraumer Zeit wieder dachte er an Leibniz und erfreute sich des Ortes, der nun der seine war, in der besten aller möglichen Welten, und beinahe hätte er Lust gehabt, sich vor der Güte Gottes zu verneigen, dem Herrn der Welten, der jegliche Kreatur an die richtige Stelle setzte. Aber Gott verdiente keinerlei Lobpreisung, denn die einzigen Demiurgen dieser kleinen Welt waren Matthieu und Libero. Der Demiurg ist nicht der Schöpfergott. Er weiß nicht einmal, dass er eine Welt erbaut, er stellt ein Gebilde her von Menschenhand, Stein um Stein, und bald schon entwischt ihm seine Schöpfung und überflügelt ihn, und wenn er sie nicht zerstört, dann ist es sie, die ihn zerstört.

Matthieu freute sich darauf, zum ersten Mal verfolgen zu können, wie es langsam Winter wird, anstatt schlagartig beim Ausstieg aus dem Flieger auf den Winter zu stoßen. Aber es wird nicht langsam Winter. Er kommt schlagartig. Noch ist die Sonne warm am trüben Sommerhimmel. Und dann schließen sich die Fensterläden der letzten Häuser, einer nach dem anderen, man trifft niemanden mehr an auf den Dorfstraßen, für zwei oder drei Tage weht mit der Abenddämmerung ein lauwarmer Wind vom Meer her, bevor Nebel und Kälte die letzten Lebenden einhüllen. In der Nacht lässt der Frost die Straße funkeln, als wäre sie mit Edelsteinen übersät. In diesem Jahr jedoch ähnelte zum ersten Mal der Winter nicht ganz dem Tode. Die Touristen waren weg, aber die Bar leerte sich nicht. Die Leute kamen von überall her, um einen Aperitif zu trinken, sie nahmen an den Veranstaltungen freitagabends teil, wenn Pierre-Emmanuel Colonna von seiner Woche an der Uni zurück war, sie hörten ihm beim Singen zu und sahen die nahe am Kamin sitzenden Mädchen an, Gratas kümmerte sich darum, das Fleisch zu grillen, und Matthieu blieb nichts anderes zu tun, als sein Glück zu genießen, mit Alkohol, der ihm die Adern verbrannte. Von Zeit zu Zeit, wenn sie entschieden hatte, dass er an der Reihe war, schlief er mit Virginie Susini. Sie redete nie. Es genügte ihr, in die Bar zu kommen und sich an einen einzelnen Tisch zu setzen, wo sie ihren Abend damit verbrachte, Patiencen zu legen. Bei Ladenschluss, wenn Annie die Kasse machte, war sie noch immer da und fixierte Matthieu, ohne etwas zu sagen, und folgte ihm, wenn er nach Hause ging. Er führte sie möglichst leise in sein Zimmer, um seinen Großvater nicht zu alarmieren, und zwar jedes Mal. Es war aber äußerst bedrückend, mit Virginie zu schlafen, ihr Schweigen musste ertragen werden, die Starre ihres eindringlichen Blicks, es musste ertragen werden, dass nichts von alldem etwas bedeutete und nichts das Gefühl rechtfertigte, das ihn beschlich, erniedrigt worden zu

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