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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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bewohnen, es funkeln so viele phosphoreszierende Augen in ihr, es huschen so viele Wesen in ihr in gestaltlosem Gewimmel, die Jacques’ zartes Fleisch begehren, um ihr giftiges Mundwerkzeug darin zu versenken oder ihre Larven in ihm abzulegen, und Marcel ahnt, dass er ihn nicht würde verteidigen können, er schreibt einen langen Brief an Jeanne-Marie, Meine liebe Schwester, ich wüsste ihn nicht zu verteidigen gegen die unausweichlichen Schrecken dieses Klimas wimmelnder Tiere, ich möchte nicht, dass er stirbt wie seine Mutter, und ich will nicht, dass er ohne sie aufwächst, gewähre Jacques, dass er eine Mutter wiederfinde und eine Schwester hinzugewinne in Deiner kleinen Claudie, ich sehe den Umfang meiner Frage, bitte, an wen sollte ich mich, der ich noch nie Deine Zärtlichkeit ausgenutzt habe, nur wenden, wenn nicht an Dich, und als Jeanne-Marie ihr ergriffenes Einverständnis gab, da wartete er darauf, dass ein Urlaub ihm erlaubte, zurück nach Frankreich zu reisen, um ihr Jacques anzuvertrauen. Er weint, als er allein nach Afrika zurückkehrt, vor Schuld, vielleicht vor Kummer, er weiß es nicht, im Grunde seiner Seele aber fühlt er die große und irritierende Erleichterung darüber, dass es ihm mit einem Schlag gelungen war, seinen Sohn zu retten und zugleich loszuwerden. Zurück in seinem Purgatorium machte er weiter mit seiner monotonen Reise an Besichtigungen quer durch das Buschland, kam in Dörfer, wo der Größe nach aufgereiht abgestumpfte Kinder auf ihn warteten, denen er ein ungefähres Geburtsdatum zusprach, um die Personenstandsregister zu aktualisieren, und sprach Recht mit der müden Gestik eines gestürzten Gottes, notierte minutiös jedes Detail alberner Konflikte, von denen ihm die Klagenden auf Ful, Susu, Maninka und all den Sprachen des Elends und der Barbarei berichteten, deren Klänge er nicht mehr ertrug, obgleich er sich zwang, bis zum Schluss zuzuhören, um Urteile zu sprechen, deren ausgleichende Gerechtigkeit wieder die wohltuende Ruhe einkehren lassen sollte, die er anstrebte, und während der Baumwollernte prangerte er gnadenlos die Habgier belgischer Händler an, die ihre Gewichte fälschten, und wies voller Verachtung deren Einladungen zurück auf ein gutes Gläschen, nicht etwa weil er sich um das Interesse der Negerbauern kümmerte, sondern weil Rechtschaffenheit seinen einzigen Adelsbrief bildete, er führte mit unbeugsamer Härte Buch über die Einnahmen der Kopfsteuer, und am Tagesende, wenn er mit dem Arzt zusammensaß, beklagte er sich darüber, dass sein Geschwür ihm nicht erlaubte, sich mit ihm zu besaufen, um den nächtlichen Drohungen zu entkommen. Jeanne-Marie schrieb ihm, dass Jacques heranwachse und viel an ihn denke, sie sei seit der Niederlage von Điện n Biên Phủ ohne Nachricht von André Degorce, habe aber Vertrauen, denn Gott werde nicht die Grausamkeit besitzen, ihr zweimal den Gatten zu nehmen, das Kolonialreich brach langsam zusammen, Jeanne-Marie schrieb, die Việt Minh hat André befreit, ich bin so glücklich, Jacques denkt an Dich und küsst Dich, er wächst so schnell, André wird bald nach Algerien abreisen, und Marcel neidete seinem Schwager dessen abenteuerliches Leben, das so schmerzhaft im Gegensatz stand zu der Leere seines eigenen, er sah das Kolonialreich nicht zusammenbrechen, er hörte nicht einmal das dumpfe Knirschen seiner angeschlagenen Fundamente, denn er war vollständig auf das Zusammenbrechen seines eigenen Körpers konzentriert, den Afrika mit seiner lebendigen Fäulnis langsam verseuchte, er betrachtete das Grab seiner Frau, auf dem Pflanzen wucherten, die er mit wütenden Machetenhieben niederschlug, und er wusste, dass er ihr bald schon folgen würde, denn der Dämon seines Geschwürs, von tropischer Feuchte genährt, quälte ihn mit unbekannter Stärke, als würde ihm seine dämonische Vorahnung erlauben zu fühlen, dass draußen, in der Schwüle verdorbener Luft, zahllose Verbündete darauf lauerten, ihm bei der Vollendung seines Unterfangens einer langsam vonstattengehenden Zertrümmerung zu helfen, und Marcel hielt die Augen weit aufgerissen in die Nacht, er hörte die Schreie der Beute, er hörte die Leichen der verwirrten Schlafkranken über den Sand schleifen, während die Krokodile sie langsam in Richtung ihres wässrigen Massengrabes zogen, er hörte das raue Schnappen von Kiefern, das Garben aus Schlamm und Blut aufwarf, und in seinem eigenen aufgewühlten Körper spürte er die Organe sich behäbig in Bewegung

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