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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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schämten sich nicht einmal ihrer Amoral, Claudie hatte sich vor ihr aufgerichtet, völlig nackt und feucht, und ihr einen Blick der Kampfansage entgegengeschleudert, den nichts hat zu Boden senken können, weder Zurechtweisungen noch Schläge, Jacques wurde in ein katholisches Internat geschickt und Claudie weigert sich, mit ihren Eltern zu reden, sie sagt, sie hasse sie, die Zeit zernagt ihre inzestuöse Bestimmung nicht, eine heimlich geführte und anstößige Korrespondenz wird abgefangen, Claudie verschont sie mit nichts, über Jahre hinweg nicht, sie setzt sie täglich ihren Tränen aus, ihrem Geschrei, ihrem hysterischen Schweigen, Jacques flieht das Internat, in das man ihn mit Gewalt zurückbringt, und wo er zu einer sinnlosen Buße gezwungen wird, bis irgendwann der pensionierte General André Degorce, dem es auf eine weitere Niederlage auch nicht mehr ankommt, erneut die Fahne der Kapitulation schwenkt und bei aller unvermeidlichen Schande diese Heirat anerkennen lässt, die schlussendlich durch Aurélies Geburt geheiligt wird nach Ablauf einiger Jahre, während derer sich die gefräßigen Ehegatten in egoistischer Manier dem berauschenden Schwelgen im eigenen Fleische hingegeben hatten, denn es entkommt selbst ein noch so versessener Egoismus nicht den unabänderlichen Zyklen der Geburt und des Todes. Marcel beugt sich erst über die Wiege von Aurélie, dann über die von Matthieu, über den schattigen Schlund der Gruften, die sich verschließen erst über Jean-Baptiste, dann über Jeanne-Marie, stets in der exakt von der Weisheit des Personenstandes festgelegten Reihenfolge, und über die blutigen und kalten Hände von General André Degorce, dessen Herz schon seit so langer Zeit aufgehört hatte zu schlagen. Marcel ist allein, und die Stunde des Ruhestandes bestätigt ihm, was er vielleicht schon immer gewusst hatte, es ist nichts geschehen, die Fluchtlinien sind geheime Kreisbewegungen, deren Laufbahn sich unerbittlich schließt und ihn zurückführt ins verhasste Dorf seiner Kindheit, mit einer auf seine Anzüge aus Wolle und Leinen in seinem Koffer gelegten alten Photographie, aufgenommen im Sommer 1918, die an der Seite seiner Mutter und seiner Geschwister das rätselhafte Gesicht der Abwesenheit in Silberchlorid gebannt hatte. Die Zeit ist schwer inzwischen, beinahe unbeweglich. Nachts, da zieht Marcel sein Greisenalter von Zimmer zu Zimmer durchs leere Haus, auf der Suche nach der jungen, dummen und fröhlichen Frau, die verloren zu haben er nicht sich zu trösten vermag, aber er findet nur seinen Vater, der auf ihn wartet, aufrecht in der Küche. Kein einziger Ton entwindet sich je seinen weißen Lippen und unter verbrannten Wimpern schaut er seinen letzten Sohn an, er schaut ihn an, als wolle er ihm so viele verpasste Zusammenkünfte vorwerfen, mit Welten, die es nicht mehr gibt, und Marcel bricht zusammen unter dem Gewicht des Vorwurfs, er weiß, dass niemand je seine Jugend erneuern wird, und er wünscht es sich nicht, denn es würde nicht im Geringsten etwas nützen. Nun, da er die Seinen zu Grabe getragen, einen nach dem anderen, muss der kräftezehrende Auftrag, den er erfüllt hat, einem anderen anheimfallen, und er wartet darauf, dass seine stets gefährdete, aber unwandelbare Gesundheit schließlich doch besiegt sein möge, denn laut der vom Personenstand festgelegten Reihenfolge ist es nun an ihm, allein ins Grab zu steigen.

»Denn Gott hat für Dich nur eine verderbliche Welt geschaffen.«

In diesem Dorf steigen die Toten allein ins Grab – nicht allein in Wahrheit, sondern gehalten von fremden Händen, was aufs Gleiche hinausläuft, und so ist es also gerecht zu sagen, dass Jacques Antonetti den Weg zur Gruft allein nahm, während seine am Ausgang der Kirche fern von ihm unter der Junisonne gruppierte Familie die Trauerbekundungen entgegennahm, denn Schmerz, Gleichgültigkeit und Mitleid sind Bekundungen des Lebens, deren kränkendes Schauspiel von nun an vor dem Verschiedenen verborgen gehalten werden muss. Jacques Antonetti war drei Tage zuvor in einem Pariser Krankenhaus verstorben, und das Flugzeug, das ihn zurückbrachte nach Hause, war noch am gleichen Morgen in Ajaccio gelandet, zur Stunde, da sein Sohn Matthieu die Schlafstätte der Kellnerinnen verließ und zur Bar ging, um sich einen Kaffee zu bereiten. Libero stand bereits hinterm Tresen, im Anzug, er brachte die Kaffeemaschine in Gang, und Matthieu war ihm dankbar, dass er so früh aufgestanden war, um ihm zur Seite zu

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