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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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stehen.
    »Hast du hier geschlafen?«
    Matthieu nickte zustimmend und senkte seinen Kopf. Er hätte die beiden letzten Nächte gern bei sich zu Hause verbringen wollen, er hatte es tatsächlich vorgehabt, am Vorabend hatte er es sogar versucht, aber sein Großvater blieb schweigsam sitzen und schien seine Anwesenheit nicht einmal wahrzunehmen, sodass Matthieu sich ebenfalls in einen Sessel gesetzt hatte, den Blick auf die geschlossenen Fensterläden gerichtet, mit Beginn der Nacht war er aufgestanden, um eine Lampe zu entzünden, aber sein Großvater hatte gesagt: »Nein«, ohne sich zu bewegen, ohne die Stimme zu erheben, einfach »Nein« hatte er gesagt und hatte hinzugefügt: »Das entspricht nicht der Ordnung der Dinge«, und hatte mit der Hand ein Zeichen gemacht, das Matthieu eiligst als eine Erlaubnis, Abschied nehmen zu dürfen, verstehen wollte oder als etwas Definitiveres und vielleicht sogar Gewaltsameres, als eine herrschaftliche Einladung, sich hier und jetzt zu entfernen von einer Einsamkeit, die allein nach der Stille der Nacht verlangte, und Matthieu hatte gehorcht, hatte seinen Großvater von seiner lästigen Anwesenheit befreit und befreite sich so zugleich von ihm und war kein einziges Mal mehr ihn besuchen gegangen. Libero servierte Matthieu einen Kaffee, setzte sich zu ihm und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
    »Du willst so gehen? Du willst so auf die Beerdigung deines Vaters gehen?«
    Matthieu trug saubere Jeans und ein schwarzes Hemd, das er einigermaßen aufgebügelt hatte. Leicht verstört prüfte er seine Aufmachung nun auch selbst.
    »Geht das so nicht?«
    Libero näherte sich ihm und packte ihn am Nacken.
    »Nein, das geht so nicht. Du kannst deinen Vater so nicht beerdigen. Du riechst nach Schweiß. Du riechst nach Parfum. Du stinkst. Deine Fresse sieht unmöglich aus. Wir gehen jetzt zu meiner Mutter und du wirst erst mal eine Dusche nehmen, dann wirst du dich rasieren und wir suchen für dich einen Anzug raus und eine Krawatte, wir werden was finden, was dir passt, und alles wird gut ablaufen, du wirst alles so machen, wie du es machen musst, alles wird gut werden. Ich bleibe an deiner Seite. Es wird gut gehen, du wirst schon sehen, ich verspreche es dir.«
    Matthieu spürte Tränen in seine Augen steigen, aber sie hielten sich genau an der Linie seiner trockenen Lider und zögerten einen Augenblick, bevor sie dann plötzlich zurückflossen. Er fand seine Atmung wieder und zog Libero kurz an sich, bevor er ihm folgte, und zwei Stunden später, als der Leichenwagen, gefolgt von einer nicht endenden Wagenkolonne, zum Klang der Totenglocke ins Dorf einfuhr, wartete Matthieu aufrecht an der Seite seines Großvaters vor der Kirche, in einem ihm weidlich zu großen Anzug, den er mit der Anweisung erhalten hatte, nur ja nicht die Weste aufzuknöpfen, damit die unschönen Falten der Hose verdeckt blieben, die ein oberhalb seines Bauchnabels hängender Gürtel hielt. Libero gab ihm ein Zeichen mit dem Daumen, alles sei gut, und plötzlich dann, als der Sarg aus dem Leichenwagen gezogen wurde, entstieg den Wagen eine Menge lüsterner Leute und stürzte in einem grauenerregenden Gewühl auf ihn ein, um ihn zu küssen, Frauen, die er nicht kannte, drückten ihn gegen die schwarze Spitze ihrer Trauerkleider, seine Wangen waren benetzt von fremden Tränen, er roch den aufdringlichen Geruch von Eau de Cologne, Tagescremes und billigen Parfums und er sah aus dem Augenwinkel weitere Unbekannte die Ellenbogen einsetzen, um sich auf Marcel zu stürzen, ein Angestellter des Bestattungsunternehmens rief: »Nachher! Nachher die Beileidsbekundungen! Nach der Feier!«, aber niemand hörte ihm zu, die Menge hatte Matthieu gegen die Kirchenmauer gepresst und erdrückte ihn mit ihrer feuchten Umklammerung, ihm wurde schwindelig, er nahm seine Mutter wahr, die den Arm nach ihm streckte und ihn rief, aber sie wurde erfasst von einer Unmenge mitleidloser Hände, die das von Trauer zersetzte Fleisch berühren wollten, Aurélie weinte in der Nähe des Sarges, ihrerseits überflutet von einer dichten Welle gefräßigen Mitleids, die stark gespannten feuchten Lippen vor dem Kontakt mit dem Kuss, die speichelglänzenden Goldzähne unter geschürzten Lippen, und Matthieu hatte den Eindruck, sich in einem Gebräu menschlicher Wärme aufzulösen, sein Hemd war schweißnass, der Druck der Gürtelschnalle auf seinen Bauch schmerzhaft, und alles beruhigte sich schlagartig, die Menge trat beiseite, um den Toten passieren zu

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