Untergrundkrieg
er mich nicht einmal Aufsätze korrigieren. Dazu sei ich zu unfähig. Stattdessen musste ich alle möglichen niederen Arbeiten erledigen – die Schüler beaufsichtigen, saubermachen und läppische Multiple-Choice-Tests durchsehen. Ich war eigentlich gern mit den Kindern zusammen, aber mein Leben war einfach zu anstrengend. Die Arbeitszeiten waren so lang, dass ich pro Tag oft nur zwei bis drei Stunden Schlaf bekam. Anderthalb Jahre ließ ich mir das gefallen, dann warf ich das Handtuch.
In meiner Zeit bei der Firma in Fukui hatte ich ein bisschen Geld gespart und beschloss, von diesen Ersparnissen zu leben, während ich meine Schriftstellerkarriere vorantrieb. Drei Jahre blieb ich arbeitslos und lebte von 50.000 Yen [ca. 500 Euro] im Monat. Außer Lebensmitteln kaufte ich überhaupt nichts. Ich bin sowieso ein genügsamer Mensch, der nicht viel Geld braucht. Ich las entweder oder versuchte zu schreiben. In meiner Gegend gab es fünf öffentliche Büchereien, sodass ich mir jeden Tag neue Bücher ausleihen konnte. Ich führte ein ziemlich einsames Dasein, aber mir macht es nichts aus, allein zu sein. Die meisten Menschen hätten es wohl kaum ertragen.
Zu der Zeit las ich vor allem surrealistische Romane – Kafka, Nadja von André Breton und so fort. Ich ging zu Uni-Festen, las die ganzen kleinen Zeitschriften, die man dort mitnehmen konnte, und lernte Leute kennen, mit denen ich über Literatur reden konnte. Damals freundete ich mich mit einem Philosophiestudenten von der Waseda-Universität an, der mir viele Autoren empfahl: Wittgenstein, Husserl, Shu Kishida, Shoichi Honda. Er schrieb auch, und ich war ziemlich beeindruckt von seiner Prosa, aber wenn ich heute daran zurückdenke, waren seine Geschichten wahrscheinlich ziemlich epigonal.
Er hatte einen Freund namens Tsuda, der Mitglied bei Soka Gakkai war. 28 Dieser Tsuda wollte mich unbedingt zum Beitritt überreden. Wir führten endlose Diskussionen über Religion, bis er schließlich sagte: »Das ganze Gerede bringt dich nicht weiter. Ohne echte Erfahrung kannst du dich nicht ändern, also halt einfach mal den Mund und probier’s aus.« Also schloss ich mich seiner Soka-Gakkai-Gruppe an und wohnte ungefähr einen Monat mit ihnen zusammen. Aber das war nicht das Richtige für mich. Soka Gakkai gehört zu den Gemeinschaften, die den Leuten helfen, Erfolg zu haben. Das interessierte mich überhaupt nicht. Ich war auf der Suche nach einer reineren Lehre, wie zum Beispiel Aum Shinrikyo sie vertrat. Für mein Empfinden kam Aum der ursprünglichen buddhistischen Lehre unendlich viel näher.
Als mir das Geld ausging, suchte ich mir einen Job bei einer Kaufhausspedition. Dort arbeitete ich zwei Jahre. Wir transportierten Waren für das Kaufhaus Seibu in Ikebukuro. Die Arbeit war schwer, aber weil ich mich für Kampfsportarten interessiere und gern trainiere, strengte sie mich nicht allzu sehr an. Als Teilzeitkraft verdiente ich nur wenig Geld, auch wenn ich dreimal so schwer schuftete wie alle anderen. Daneben besuchte ich Abendkurse an einer Schule für Journalismus. Ich wollte lernen, wie man Reportagen schreibt.
Um diese Zeit begann das Leben in Tokyo mich zu überfordern. Ich spürte genau, wie ich innerlich verwahrloste. Ich neigte zu Gewalttätigkeiten und war jähzornig. Damals war ich gerade auf einem Öko-Trip, und es drängte mich immer mehr, in der Natur zu leben oder zumindest in meinen Heimatort zurückzukehren. Wenn ich mich einmal für etwas interessiere, kann ich mich richtig reinsteigern. Ich war damals ganz besessen von ökologischen Themen. Aber unabhängig davon hatte ich den Asphaltdschungel von Tokyo satt und sehnte mich nach dem Meer und nach zu Hause.
Also zog ich wieder zu meinen Eltern und fand Arbeit auf der Baustelle des Atomreaktors Monju. Ich gehörte zu denen, die das Gerüst aufbauten. Wieder betrachtete ich meine Arbeit als eine Art Training, aber sie war auch ganz schön gefährlich. Nach einer Weile gewöhnt man sich zwar an die Höhe, aber ich bin doch mehrmals gestürzt, einmal hätte es mich sogar fast das Leben gekostet. Warten Sie mal – ich habe, glaube ich, ungefähr ein Jahr dort gearbeitet. Vom Reaktor aus hatte man einen herrlichen Blick aufs Meer. Deshalb habe ich den Job auch angenommen – damit ich bei der Arbeit das Meer sehen konnte. Der Monju steht an der schönsten Stelle der ganzen Gegend.
Murakami: Aber wie kann jemand, der sich für Ökologie einsetzt, am Bau eines Atomkraftwerks
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