Untergrundkrieg
gewünscht, dass er eines Tages gesund und glücklich würde, dass er doch noch geheilt werden würde. Es war fast eine religiöse Hoffnung. Damals waren die Prophezeiungen des Nostradamus sehr aktuell, dass die Menschheit 1999 untergehen würde und so weiter. Für mich eine erfreuliche Nachricht, denn die Welt war mir verhasst. Sie war ungerecht und grausam zu den Schwachen. Ich grübelte viel über die Unzulänglichkeiten der Menschheit nach und wurde nur noch deprimierter.
Ich hatte niemanden, mit dem ich sprechen konnte über das, was mich belastete. Alle lernten für irgendwelche Prüfungen oder kannten kein anderes Thema als Autos und Baseball. In der Oberschule war ich ein großer Bewunderer von Katsushiro Otomo, dem Comic-Zeichner. Damals war er noch nicht so berühmt. Seine Arbeiten kamen mir ungeheuer wirklichkeitsgetreu und lebendig vor. Ihr Inhalt war so düster wie meine eigenen Gedanken, und ich hatte das Gefühl, seine Visionen könnten jeden Moment Wirklichkeit werden. Manchmal kopierte ich seine Arbeiten – Sayonara Nippon, Short Peace, Boogie Woogie Waltz und so weiter.
Weil ich unbedingt von zu Hause fort und nach Tokyo wollte, meldete ich mich nach der Oberschule an der Chiyoda-Schule für Werbegraphik an. Dort kann man Comic-Zeichnen im Hauptfach studieren. Aber nach einem halben Jahr schmiss ich das Studium hin, warum weiß ich nicht. Allerdings fing ich damals an, Mauern zwischen mir und anderen Menschen zu errichten. Und in Tokyo wurden die Mauern immer höher. Meine Kommilitonen waren eigentlich ganz in Ordnung, und ich lernte auch ein paar Mädchen kennen. Aber selbst wenn eine wirklich gut zu mir passte, baute ich sofort eine Mauer zwischen uns auf. Am Unterricht lag es nicht, der gefiel mir. Es waren die Menschen, mit denen ich einfach nicht zu Rande kam. Ich ging zwar mit den anderen Studenten aus und trank auch etwas, aber es machte mir keinen Spaß. Mein Hass auf die Welt wurde immer größer.
Eigentlich verstehe ich es bis heute nicht richtig. Endlich hatte ich Gelegenheit, andere Menschen kennen zu lernen, und schlug sie doch nur in die Flucht. Aber ich konnte wohl nicht anders. Also hörte ich nach einem halben Jahr auf und lebte von Jobs. Meine Eltern überwiesen mir ein Taschengeld. Ich zeichnete weiterhin Comics, um in Übung zu bleiben und besser zu werden. Aber mit achtzehn oder neunzehn ist es schwierig, sich selbst etwas beizubringen. Außerdem lastete meine Isolation psychisch schwer auf mir. Mit der Zeit entwickelte ich eine regelrechte Menschenphobie.
Ständig fürchtete ich, hintergangen oder gekränkt zu werden. Ich verwahrloste innerlich. Wenn ich ein Paar oder eine vergnügte Familie beim Spaziergang beobachtete, dachte ich als Erstes: »Aus denen müsste man doch Kleinholz machen.« Gleichzeitig hasste ich mich für diese Gedanken.
Ich war von zu Hause weggegangen, um der düsteren Atmosphäre nach dem Tod meines Bruders zu entkommen, aber zur Ruhe kommen konnte ich doch nicht. Nirgends klappte es, und ich verabscheute meine Umgebung immer mehr. Wenn ich meine Wohnung verließ, hatte ich das Gefühl, in die Hölle zu geraten. Schließlich kriegte ich auch noch einen Waschzwang. Wenn ich nach Hause kam, musste ich mir sofort die Hände waschen. Eine halbe oder sogar eine ganze Stunde stand ich am Waschbecken und wusch mir unentwegt die Hände. Ich wusste selbst, dass das krankhaft war, aber ich kam nicht dagegen an. Zwei oder drei Jahre lebte ich so.
Murakami: Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein.
Ja, in diesen zwei, drei Jahren habe ich mit kaum jemandem gesprochen. Ab und zu mit meiner Familie oder mit Leuten von der Arbeit. Ich schlief immer mehr, über fünfzehn Stunden am Tag. Sonst fühlte ich mich unheimlich mies. Mit meinem Magen war auch etwas nicht in Ordnung, oft überfielen mich ganz plötzlich stechende Schmerzen. Ich wurde blass, der Schweiß brach mir aus, und ich kriegte keine Luft mehr. Ich fragte mich schon, ob es mit mir zu Ende ginge.
Ich beschloss, mein Leben mit Hilfe von Yoga und einer Diät wieder in den Griff zu bekommen. In einem Buchladen stieß ich auf »Jenseits von Leben und Tod« von Shoko Asahara und las eine Weile darin. Darin wurde behauptet, die Erweckung der Kundalini sei innerhalb von drei Monaten möglich. Das erstaunte mich sehr, und eigentlich bezweifelte ich es. Ich hatte bereits Outline of Theosophy von Charles W. Leadbeater gelesen, und ich hatte Grundkenntnisse im Yoga. Also ging ich nach Hause und probierte es
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