Untergrundkrieg
konnte ich mich auch nicht. Inzwischen bin ich viel entspannter, trotzdem rege ich mich immer noch leicht über irgendwelche Nichtigkeiten auf.
Meine Frau hat am Anfang sehr viel Rücksicht auf mich genommen, aber weil ich ununterbrochen meine Wut an ihr ausließ, wurde es sogar ihr zu viel. Es war höchste Zeit, dass ich wieder zur Arbeit ging. Ich wollte wieder meine Uniform tragen und auf dem Bahnsteig arbeiten. Die Rückkehr zur Arbeit war der erste Schritt zur Heilung.
Ich habe keine körperlichen Beschwerden, aber seelisch bin ich sehr belastet. Darüber muss ich hinwegkommen. Als ich wieder zu arbeiten anfing, hatte ich natürlich Angst, so etwas könnte wieder passieren. Um die Angst zu überwinden, muss man eine positive Lebenseinstellung haben, sonst schleppt man das Bewusstsein, ein Opfer zu sein, für den Rest seines Lebens mit sich herum.
Es ist eine Tragödie, dass unschuldige Menschen ums Leben gekommen oder verletzt wurden, nur weil sie mit der U-Bahn fuhren. Einige von ihnen leiden immer noch seelisch oder körperlich. Wenn ich an diese Leute denke, weiß ich, dass ich nicht das Recht habe, mich ewig als Opfer zu sehen. Deshalb sage ich: »Ich bin kein Opfer, ich bin ein Mensch mit einer besonderen Erfahrung.« Ehrlich gesagt, habe ich noch einige Symptome, aber ich bemühe mich, möglichst nicht daran zu denken. Immerhin bin ich am Leben und nicht bettlägerig. Dafür bin ich dankbar.
Die Angst und die seelischen Wunden sind natürlich noch da, und ich kann sie nicht loswerden. Ich finde keine Worte für die Familien der Kollegen, die im Dienst ums Leben gekommen sind.
Ich versuche, Aum nicht zu hassen. Das überlasse ich den Zuständigen. Mein Hass würde ja auch nichts nützen. Ich verfolge auch nicht die Berichterstattung. Das brauche ich nicht, ich weiß auch so Bescheid. Was hätte ich denn davon, wenn ich alles in allen Einzelheiten verfolgen würde? Das Urteil und die Strafen interessieren mich nicht. Das entscheiden die Richter.
Murakami: Was meinen Sie mit »ich weiß auch so Bescheid«?
Dass unser gesellschaftliches Klima Menschen wie die Mitglieder von Aum hervorbringen kann. Wenn man wie ich täglich mit so vielen Fahrgästen zu tun hat, erkennt man das. Es ist eine Frage der Moral. Wenn man auf dem Bahnhof arbeitet, bekommt man die Menschen von ihrer negativsten Seite zu Gesicht. Zum Beispiel: Es gibt Leute, die, wenn wir gerade den Abfall zusammengefegt haben, eine Kippe oder ein Stück Papier genau auf die Stelle werfen. Es gibt zu viele, die statt Verantwortung zu übernehmen nur an sich selbst denken.
Natürlich habe ich auch positive Erlebnisse. Ein Fahrgast, so um die fünfzig, der immer mit dem ersten Zug fährt und mich schon früher jeden Morgen gegrüßt hat, glaubte anscheinend eine Zeit lang, ich wäre gestorben, weil er mir nicht mehr begegnet ist. Gestern Morgen sagte er zu mir: »Dass Sie am Leben geblieben sind, bedeutet, dass Sie noch viel vorhaben. Machen Sie weiter so!«
»Dafür bin ich auch sehr dankbar«, antwortete ich. »Machen wir beide weiter so!« Ein so freundlicher Gruß macht einen richtig froh.
Aus Hass entsteht gar nichts.
»Ich habe nicht gerade Angst, U-Bahn zu fahren, aber ich gehe nicht mehr gern allein auf die Straße«
Tomoko Takatsuki (26)
Frau Takatsuki lebt mit ihrem Mann bei ihrer Großmutter im Bezirk Shibuya. Zur Zeit des Sarin-Anschlags wohnte das frisch verheiratete Paar noch in Kawasaki.
Ihr jetziges Heim ist seit langem im Besitz der Familie, und ihre Mutter ist schon dort aufgewachsen. Ihre Großmutter vermietet Teile des oberen Stockwerks, in dem auch Frau Takasaki und ihr Mann leben. »Wir wohnen hier sehr zentral«, sagt sie. »Außerdem zahlen wir nicht viel Miete.« Aber ihre Großmutter fügt hinzu: »Ich bin nicht mehr so gut auf den Beinen. Vielleicht haben sie sich um mich Sorgen gemacht.«
Frau Takatsuki sieht jünger aus als 26. Man könnte sie noch für eine Studentin halten. Als wir um das Interview baten, sagte sie scheinbar distanziert: »Ich bin doch gar nicht verletzt worden. Sie sollten lieber wirklich Betroffene fragen …«, aber im Laufe unseres Gesprächs wurde mir klar, dass der Anschlag sie auch heute noch belastet. Sie ist eine starke Persönlichkeit, aber nicht der Typ, der Fremden sofort von sich erzählt. Erst ganz allmählich gab sie etwas von sich preis.
Während des Interviews verließ ihr großer, schweigsamer Mann taktvoll den Raum. Sie hat ihn auf einer Party kennen gelernt, auf die sie
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