Untergrundkrieg
ich es mir verbiete und sage: »Schluss jetzt, das ist weiter nichts.« Ein Arzt im Fernsehen hat gesagt, wenn die Symptome einmal weg sind, braucht man keine Angst mehr vor Spätfolgen zu haben. Aber wer kann das wissen? Ich hoffe nur, es kommt nichts nach.
Natürlich bin ich wütend. Ich finde nicht, dass diese Verbrecher Gnade verdient haben. Ich will wissen, warum sie das getan haben. Ich verlange eine Erklärung und eine Entschuldigung von denen. Ich bestehe darauf.
Ich denke oft daran, dass ich hätte tot sein können. Ich habe immer noch ein bisschen Angst, allein auf die Straße zu gehen. Es hat nichts mit der U-Bahn zu tun. Deshalb gehe ich jetzt möglichst immer mit meinem Mann zusammen aus dem Haus. Vielleicht ist das eine psychische Nachwirkung. Oft frage ich mich, wann ich sterben werde. Ich war schon immer ziemlich nervös, und wenn ich darüber nachdenke, bekomme ich Magenschmerzen.
Mein Mann kümmert sich wirklich sehr um mich. Er macht sich fast größere Sorgen als ich. Er meint, ich hätte vielleicht nicht so schnell aus dem Krankenhaus entlassen werden dürfen. Wenn irgendetwas ist, denkt er immer gleich, es liegt am Sarin. Er ist für mich da. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit füreinander. Wenn wir uns morgens an der U-Bahn verabschieden, denke ich jedes Mal: »Nein, ich will nicht.« Seit dem Anschlag haben wir uns nicht gestritten. Früher kam das dauernd vor. Inzwischen frage ich mich immer, wie das wäre, wenn wir uns nach einem Streit am Bahnhof trennen würden und einem von uns würde etwas zustoßen.
»Am Tag nach dem Sarin-Anschlag bat ich meine Frau um die Scheidung«
Mitsuteru Izutsu (38)
Herr Izutsu arbeitet gegenwärtig als Einkäufer von Garnelen für ein großes Unternehmen. Nachdem er die Hochschule der Handelsmarine in Tokyo beendet hatte, ist er zunächst eine Weile zur See gefahren, bis eine Krise in der Seefahrt ihn mit dreißig Jahren dazu brachte, seine seemännische Laufbahn abzubrechen und einen Schreibtischjob bei einer Importfirma für Garnelen anzunehmen. Sieben Jahre später wechselte er zu seiner jetzigen Firma, wo er nun seit zwei Jahren als Experte für den Garneleneinkauf tätig ist.
Die Einfuhr von Meeresfrüchten ist im Vergleich zum Fleischimport teuer. Da die Marktpreise stark schwanken, ist das Risiko in dieser Branche hoch, und ein hohes Maß an Auslandserfahrung ist erforderlich. Herr Izutsu hatte kein spezielles Interesse am Garnelenhandel, aber da er einen Beruf ausüben wollte, der mit dem Ausland zu tun hat, erschien ihm der Handel mit Meeresfrüchten passend. Eigentlich hatte er vor zwei Jahren eine eigene Firma gründen wollen und in der Hoffnung, etwas Kapital zu erhalten, seinen jetzigen Arbeitergeber aufgesucht. »Jetzt wo die Bubble-Economy geplatzt ist, ist der Zeitpunkt ungünstig«, sagte man ihm. »Aber vielleicht wollen Sie eine Zeit lang bei uns arbeiten?« So war er am Ende seiner Reise angelangt und wurde Angestellter – eine eher ungewöhnliche Laufbahn.
Deshalb unterscheidet sich seine Perspektive auch ein wenig von der eines durchschnittlichen Angestellten. Im Gespräch mit ihm spürte ich seinen sehr unabhängigen Geist. Er sagt seine Meinung, aber er ist nicht rechthaberisch. Er ist ein Mensch mit einer eigenen Denkweise und eigenen Wertvorstellungen.
Während des Studiums hat er Judo betrieben und ist immer noch gut in Form. Er wirkt jugendlich, kleidet sich sorgfältig und hat eine Schwäche für schöne Krawatten. Ein Fachmann für Garnelen, der eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit plötzlich einen Sarin-Anschlag erlebte.
Im Augenblick wohne ich in Shin-Maruko, doch damals lebte ich in Sakuragicho in Yokohama. Meine Firma ist in Kokkai-Gijidomae im Zentrum von Tokyo, und ich fahre mit der Toyoko-Linie bis zu meinem U-Bahn-Anschluss. Arbeitsbeginn ist um Viertel nach neun, aber meist versuche ich schon so gegen acht da zu sein. Um diese Zeit sind die Bahnen noch nicht so voll, und im Büro ist auch noch keiner, sodass ich in Ruhe einiges erledigen kann. Gewöhnlich wache ich um sechs Uhr morgens auf. Ich bin ein Morgenmensch. Dafür gehe ich abends auch schon um zehn ins Bett. Zumindest wenn nichts Besonderes los ist, aber natürlich ist meist irgendwas los. Überstunden, Geschäftsessen oder ich gehe mal mit den Kollegen was trinken.
Am 20. März war ich etwas später dran als sonst. Kurz vor sieben stieg ich in die Toyoko-Linie, kam um Viertel vor acht in Naka-Meguro an und fuhr mit der Hibiya nach Kasumigaseki, wo
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