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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Krankenwagen zu sehen gewesen, und alle Passanten liefen ganz normal herum. Woran hätte man denn merken sollen, dass etwas nicht stimmte? Nur der eine Bahnbeamte war zusammengebrochen. Ich hatte angenommen, er habe einen Herzanfall oder so etwas. Und wenn ich ihn nicht gesehen hätte, wäre ich wahrscheinlich weitergegangen, ohne je etwas zu merken.
    Jedenfalls taten mir die Augen weh, also musste ich zum Augenarzt. Ich wusste nicht so recht Bescheid. Ich ging zu einem normalen Augenarzt, aber der warf nur einen Blick in meine Augen und sagte: »Alles in Ordnung. Ihre Pupillen sind etwas verengt, aber das ist nichts Schlimmes.« Aber als ich sagte, dass sie mir so wehtäten, untersuchte mich sein Vorgesetzter. »Das sieht böse aus«, sagte er. »Sie müssen in ein richtiges Krankenhaus.« Also nahm ich ein Taxi zum Toranomon-Hospital, weil das das nächste war. Mittlerweile waren Hunderte von Menschen dort eingetroffen, und man schickte mich in die Jie-Universitätsklinik, aber im Taxi hörte ich im Radio, dass sie auch überfüllt war. Ja, dann also St. Lukas – auch voll? … Ich war ratlos.
    Schließlich riet mir jemand, ins Teishin-Krankenhaus nach Gotanda zu fahren, wo es vielleicht leerer wäre. Inzwischen hatte ich im Taxi aus den Nachrichten erfahren, dass Sarin die Ursache war. Aber ich wusste nicht, welche Behandlung ich brauchte. Nicht einmal die Ärzte waren sich im Klaren darüber (lacht ). Beim Augenarzt hatten sie mir vorsichtshalber die Augen ausgespült. Das hatte etwas geholfen. Als ich dem Arzt im Krankenhaus das erzählte, sagte er gleich: »Gut, dann machen wir das jetzt auch, wir spülen allen die Augen.« (Lacht) Und die Schwestern stimmten ihm zu: »Wir haben keine Ahnung, schaden kann’s jedenfalls nicht.«
    Gut war auch, dass ich mich sofort umgezogen hatte, als ich im Büro ankam. Wir tragen Uniformen in der Firma.
    Später machten sie eine Blutuntersuchung und hängten mich an den Tropf. Ich musste im Krankenhaus bleiben. Mir war ziemlich übel, denn ich habe sowieso einen schwachen Magen. Das gab mir noch den Rest. Nach einer Weile verging die Übelkeit, aber meine Augen taten immer noch weh, und ich bekam Fieber.
    Ich blieb einen Tag im Krankenhaus. Mein Mann machte sich natürlich furchtbare Sorgen. Wir wussten ja nicht richtig, was los war. Weil mir die Augen wehtaten, konnte ich nicht fernsehen, raus konnte ich auch nicht, also hatte ich keine Möglichkeit zu erfahren, was passiert war. Trotzdem fühlte ich mich damals nicht besonders verunsichert.
    Am 21. hatte ich frei, am 22. ging ich wieder zur Arbeit, konnte aber keine zehn Minuten am Computer sitzen. »Ich geh nach Hause«, sagte ich. Aber meine Kollegen schienen mir nur halb zu glauben. »Ja, wenn Sie meinen …« war die Reaktion. Ich sagte ihnen, dass ich diese Haltung nicht sehr nett fände, aber die Antwort war auch nur: »Woher sollen wir wissen, wie Sie sich fühlen?« Natürlich standen mir diese Symptome nicht ins Gesicht geschrieben. Niemand verstand mich.
    Etwa eine Woche lang konnte ich nicht richtig arbeiten. Es war mir unmöglich, meinen Blick auf einen Punkt zu richten. Alles verschwamm mir vor den Augen. Als ich versuchte, das zu erklären, bekam ich zur Antwort: »Sie hatten ja nie besonders gute Augen, oder?«
    Ich ging mehrmals zum Arzt, aber es dauerte ungefähr einen Monat, bis ich wieder ganz normal sehen konnte. Selbst jetzt tun mir noch manchmal ein bisschen die Augen weh. Darüber mache ich mir Gedanken. Eine gewisse Unsicherheit ist geblieben. Nicht dass meine Sehkraft beeinträchtigt wäre, aber ich merke es doch bei der Arbeit.
    Aus der Berichterstattung habe ich erfahren, dass einige Opfer des Anschlags Angst haben, mit der U-Bahn zu fahren. Das war bei mir nicht der Fall. Vielleicht, weil das Sarin nicht in meiner Bahn gewesen war. Als ich zwei Tage danach mit der U-Bahn zur Arbeit gefahren bin, war ich eigentlich nicht besonders ängstlich. Es waren ja auch andere Leute in der Bahn – wie soll ich sagen, der Vorfall hatte keine Realität mehr. Obwohl ganz in meiner Nähe ein Mensch gestorben war, kam er mir irgendwie unwirklich vor.
    In letzter Zeit habe ich öfter Kopfschmerzen. Vielleicht kommt das vom Sarin, andererseits hatte ich auch früher schon manchmal Kopfschmerzen. Aber sie kommen jetzt häufiger … Und wenn ich meine Augen überanstrenge, wird mir leicht übel. Das verunsichert mich am meisten. Wenn ich einmal anfange, darüber nachzudenken, hört das Grübeln nicht mehr auf, bis

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