Untergrundkrieg
sechs im Büro gearbeitet. Natürlich hatte ich keinen Appetit, zu Mittag zu essen. Der kalte Schweiß brach mir aus, ich hatte Schüttelfrost, und alle fanden, ich sähe bleich aus. Wenn ich umgefallen wäre, wäre ich natürlich nach Hause gefahren, aber das passierte nicht … Andere tippten auf Heuschnupfen. Weil ich gerade aus Südamerika zurückgekommen war, hätte es ja wirklich eine Allergie sein können. Aber ich konnte den Blick nicht auf einen bestimmten Punkt konzentrieren und hatte Kopfschmerzen. Glücklicherweise erledige ich meine Arbeit hauptsächlich am Telefon und konnte das Lesen einer Angestellten überlassen.
Am nächsten Tag war Feiertag, sodass ich mich ins Bett legen und erholen konnte. Es war immer noch dunkel, und ich hatte keine Energie. Nachts konnte ich nicht schlafen. Anscheinend habe ich auch gestöhnt. Ich träumte kurz und schreckte dann wieder hoch. Ich hatte Angst einzuschlafen, weil ich dachte, ich würde vielleicht nie wieder aufwachen.
Ich lebe jetzt allein, aber damals hatte ich Familie – Frau und Kinder. Entschuldigen Sie die peinlichen Einzelheiten ( lacht ). Jedenfalls war ich damals bei meiner Familie und hatte doch das Gefühl, völlig allein zu sein …
Als ich die Kleider, die ich an dem Tag angehabt hatte, aufhängte, klagten die Kinder darüber, dass ihre Augen brannten. Ich habe zwei Kinder, das ältere ist schon groß, aber das jüngere geht noch in die Grundschule. Ihm taten die Augen weh. Ich war mir nicht sicher, aber ich dachte, es könnte nichts schaden, den Anzug und die Sachen, die ich angehabt hatte, vorsichtshalber wegzuwerfen. Sogar die Schuhe habe ich weggeschmissen.
Immerhin sind Menschen ums Leben gekommen und schwer verletzt worden, da ist man natürlich wütend auf die Verbrecher. Aber bei mir ist es vielleicht ein bisschen anders als bei den übrigen Leuten im Zug, die Opfer des Anschlags wurden. Ich bin schon ärgerlich, klar, aber weil meine Symptome verhältnismäßig schwach waren, ist mein Groll eher unpersönlich.
Es hört sich vielleicht seltsam an, aber ich kann nicht sagen, dass ich diesen religiösen Fanatismus nicht begreife, ich habe schon immer einen Sinn für solche Dinge gehabt. Zumindest würde ich so etwas nicht von vorneherein von mir weisen. Das Schicksal und die Mythen haben mich schon als Kind fasziniert, deshalb wollte ich auch zur See. Aber eine Gruppe zu bilden oder mich einer Organisation anzuschließen, widerstrebt mir völlig. Ich habe keinerlei Interesse an religiösen Gruppierungen, was aber nicht heißt, dass ich grundsätzlich gegen so etwas bin. Es ist mir zumindest nicht ganz fremd.
Wissen Sie, mir ist etwas Seltsames passiert. Als ich in Südamerika war, hat mich ein Angestellter der japanischen Botschaft in Kolumbien zum Karaoke eingeladen, und wir wären am nächsten Tag beinahe wieder in dasselbe Lokal gegangen, aber ich hatte dann doch Lust, ein anderes auszuprobieren. Und genau an diesem Tag ging eine Bombe in dem ersten Laden hoch. Ich weiß noch, wie ich, als ich wieder hier gelandet bin, gedacht habe: »Wenigstens ist Japan ein ungefährliches Land.« Und dann gehe ich am nächsten Tag zur Arbeit und mir passiert das ( lacht ). Das ist doch beinahe ein Witz. In Südamerika oder in Südostasien ist es ganz anders als in Japan; der Tod ist nie sehr fern. Unfälle sind für die Leute etwas Selbstverständliches. Ganz anders als in Japan.
Offen gesagt, am Tag nach dem Anschlag habe ich meine Frau um die Scheidung gebeten. Unsere Ehe ging schon seit einiger Zeit nicht gut, und ich hatte in Südamerika viel nachgedacht und wollte das nach meiner Rückkehr sowieso mit ihr besprechen. Dann passierte das mit dem Sarin-Anschlag. Und als ich nach Hause kam, hat sie trotzdem kaum ein Wort mit mir gesprochen.
Nach dem Unglück habe ich vom Büro zu Hause angerufen und meiner Frau erzählt, was passiert war und welche Symptome ich hatte, aber sie reagierte fast überhaupt nicht. Vielleicht hat sie aber auch überhaupt nicht richtig verstanden, was los war. Dadurch wurde ich aber umso entschlossener. Oder vielleicht war ich auch wegen meines Zustands erregt und bin deshalb sofort mit der Scheidungssache rausgerückt. Ohne den Sarin-Anschlag hätte ich vielleicht noch etwas abgewartet. Ich bin ziemlich sicher, dass ich zumindest an dem Tag noch nichts gesagt hätte. Im Grunde war der Schock der Auslöser.
Es gab bei uns schon seit längerem große familiäre Probleme, sodass ich mich selbst gar nicht mehr so
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