Untergrundkrieg
keinen persönlichen Groll gegen die Urheber von Aum. Warum er keinen Zorn verspürt, weiß er nicht.
»Ich arbeite in der Textilbranche, habe aber selbst so gut wie gar kein Interesse an Mode. Ich sehe etwas, dann kaufe ich es, ohne groß darüber nachzudenken.« Weshalb er wohl dann so gut gekleidet ist?
Meine Frau und ich leben allein. Wir haben vor dreizehn Jahren, als wir vierundzwanzig waren, geheiratet.
Wir wohnen in Chiba. Um halb acht gehe ich aus dem Haus und steige um viertel nach in Machido in die Chiyoda-Bahn. Natürlich bekomme ich keinen Sitzplatz und muss die ganze Fahrt – 45 Minuten – stehen. Manchmal wird dann in Otemachi etwas frei, und ich setze mich hin, weil ich noch halb im Schlaf bin. Wenn ich einen Sitz habe, kann ich mich eine Viertelstunde ausruhen, das ist viel.
Am 20. März, also am Tag des Anschlags, bin ich eine halbe Stunde früher als sonst von zu Hause aufgebrochen. Ich wollte vor Arbeitsbeginn noch etwas erledigen. In der Zeit fanden gerade die Modenschauen statt, und ich hatte deshalb unheimlich viel zu tun.
Außerdem standen wir kurz vor der Inventur und mussten unseren Durchschnittsumsatz errechnen. Wir haben gewisse Quoten zu erfüllen, und ich musste die Zahlen innerhalb dieser einen Woche an unsere Zentrale weiterleiten und in der darauffolgenden Woche selbst zu einer Besprechung dorthin fahren. Ob die Bilanzen gut oder schlecht waren, daran kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern.
Am 20. März hörte meine Frau bei der Werbezeitschrift auf, bei der sie seit sechs Jahren als Redakteurin beschäftigt war. Die Arbeit war einfach zu anstrengend. Jetzt arbeitet sie freiberuflich als Werbetexterin. Außerdem hat sie an dem Tag Geburtstag. Deshalb erinnere ich mich auch so gut an den 20. März.
Ich steige immer in den ersten Waggon. So bin ich dem Ausgang am nächsten, der zum Hanae Mori Building auf der Omotesando führt. An dem Tag hatte ich zufällig für die ganze Fahrt von Ochanomizu einen Sitzplatz ergattert. »Welche Wohltat zu sitzen!« dachte ich, da war ich auch schon eingenickt. Ich schlief richtig gut. In Kasumigaseki wachte ich auf. Das ist vier Haltestellen von Ochanomizu entfernt. Mein eigener Husten hatte mich geweckt. Und es roch irgendwie komisch. Eine Menge Leute verzogen sich in den nächsten Wagen. Deshalb ging die Tür zwischen den Wagen dauernd auf und zu.
Als ich die Augen öffnete, sah ich einen Bahnbeamten in grüner Uniform hereinkommen und wieder hinausgehen. Der Boden war nass. Die nasse Stelle war ungefähr fünf Meter von mir entfernt. Die Verbrecher hatten das Sarin in Ochanomizu freigesetzt und waren ausgestiegen. Aber weil ich fest geschlafen hatte, habe ich nichts gesehen. Die Polizei hat mich immer wieder befragt, aber es war nichts zu machen, ich habe nichts gesehen. Deshalb erschien ich ihnen sogar verdächtig. Ich war auf dem Weg nach Aoyama, und das Hauptquartier von Aum befindet sich auch in Aoyama.
Die Bahn fuhr weiter nach Kokkai-Gijidomae, wo alle aussteigen mussten. Es wurde über Lautsprecher nichts erklärt; es hieß nur: »Bitte aussteigen. Dieser Zug fährt nicht weiter.« Zwischen Kasumigaseki und Kokkai-Gijidomae ging es mir wirklich miserabel. Ich hustete und bekam keine Luft. Als wir in Kokkai-Gijidomae ankamen, konnten sich einige Leute in meiner Nähe kaum noch bewegen. Eine etwa fünfzigjährige Dame musste von Bahnbeamten aus dem Zug getragen werden. Im Wagen waren ungefähr zehn Leute, und mehrere hielten sich Taschentücher vors Gesicht und husteten.
»Was ist hier nur los?« überlegte ich, aber ich musste ja zur Arbeit. Ich hatte eine ganze Latte von Dingen zu tun. Auf dem Bahnsteig hockten eine Menge Leute. Die Bahnbeamten hatten die Personen um sich gesammelt, denen es besonders schlecht ging, das müssen so um die fünfzig gewesen sein. Zwei oder drei waren völlig bewegungslos, ein oder zwei lagen auf dem Bahnsteig.
Seltsamerweise herrschte keine gespannte Atmosphäre. Ich fühlte mich ja auch ziemlich eigenartig. Ich konnte nicht einatmen, es war, als würde die Luft immer dünner, aber ich konnte immerhin gehen. Also glaubte ich, es gäbe kein Problem. Anstatt mich den »Kranken« anzuschließen, stieg ich in die nächste Bahn, die gleich kam.
Kaum war ich eingestiegen, wurden mir die Knie weich. Plötzlich konnte ich nichts mehr sehen. »Verflucht, ich hätte bei den anderen bleiben sollen«, war mein erster Gedanke.
Als ich am Bahnhof Omotesando ankam, sprach ich einen Bahnbeamten an.
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