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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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beigegeben wurde, um seine Verflüchtigung zu verlangsamen, damit die Täter unbeschadet entkommen konnten. Reines Sarin hätte sich vermutlich so schnell verflüchtigt, dass sie sofort getötet worden wären.
    Gegen elf bestätigte die Polizei, dass es sich um Sarin handelte. Auch das erfuhr ich aus dem Fernsehen. Wir in der Klinik wurden nie direkt benachrichtigt. Alle unsere Informationen hatten wir aus dem Fernsehen. Inzwischen war eindeutig klar, dass die Patienten unter den Symptomen einer Sarin-Vergiftung litten, und wir gaben bereits Atropin.
    Dann rief ein Arzt aus der Shinshu-Universitätsklinik an. Er hatte die Opfer des Anschlags in Matsumoto behandelt und rief alle Krankenhäuser und Unfallkliniken in Tokyo an, um ihnen anzubieten, die Daten der Ergebnisse seiner Sarin-Behandlung zu faxen. »Ja, bitte, sofort her damit«, sagte ich, worauf rasch eine Menge Material eintraf.
    Das Wichtigste, das wir bei der Sichtung der Daten erfuhren, war die Methode, Patienten, die stationär behandelt werden mussten, von den ambulanten Fällen zu unterscheiden. Ohne praktische Erfahrungen fehlte uns in dieser Hinsicht das Urteilsvermögen. Dem Bericht zufolge war es nicht notwendig, Patienten mit verengten Pupillen, die noch gehen und sprechen konnten, in der Klinik zu behalten. Leute, deren Cholinesterase-Wert normal war, benötigten keine Sofortmaßnahmen. Diese Erkenntnisse waren uns eine immense Hilfe. Hätten wir alle unterschiedslos aufnehmen müssen, wären wir in großen Schwierigkeiten gewesen.
    Murakami: Könnten Sie bitte mit einfachen Worten erklären, wobei es sich um Cholinesterase handelt?
    Wenn man seine Muskeln bewegen möchte, senden die Nervenenden mit Hilfe von Acetylcholin einen chemischen Befehl aus. Erreicht dieser die Muskeln, bewegen sie sich, ziehen sich zusammen. Danach bewirkt das Enzym Cholinesterase eine Neutralisierung des Acetylcholin-Befehls, die wiederum die Bereitschaft für die nächste Aktion erzeugt. Und so fort.
    Wenn jedoch das Enzym Cholinesterase ausgeht – eine so genannte Cholinesterasehemmung entsteht –, funktioniert nur noch die Botschaft des Acetylcholins, und die Muskeln bleiben kontrahiert. Die Muskeln arbeiten aber durch abwechselnde Kontraktion und Entspannung. Wenn sie also in einem kontrahierten Zustand bleiben, kommt das einer Lähmung gleich. Für die Augen bedeutet das eine dauerhafte Verengung der Pupillen.
    Das Fax aus Matsumoto informierte uns, dass ein Cholinesterase-Wert unter 200 eine stationäre Behandlung des Patienten erfordert. In der Regel erholten sich auch diese Patienten vollständig und konnten nach ein paar Tagen entlassen werden. Wenn der Cholinesterase-Gehalt im Blut nicht extrem niedrig ist, kommt es nicht zu entscheidenden Lähmungen. Auch unter den ambulanten Patienten waren einige mit sehr niedrigen Cholinesterase-Werten, die aber ansonsten kaum beeinträchtigt schienen. Die Verengung der Pupillen dauerte etwa vier oder fünf Tage an, aber ihre Atmung war nicht betroffen.
    Die meisten Schwerverletzten kamen innerhalb eines Tages wieder zu Bewusstsein. Bei denjenigen, die wir nicht retten konnten, hatte die Herzoder Lungentätigkeit bereits ausgesetzt, ehe sie eingeliefert wurden. Oder es ist uns nach ihrer Einlieferung mit Hilfe von Defibrilatoren gelungen, ihre Herztätigkeit wieder in Gang zu setzen, aber sie sind nun schwerstbehindert.
    Murakami: Haben Polizei und Feuerwehr bestimmte Maßnahmen empfohlen? Es wäre doch denkbar, dass in einem so ungewöhnlichen Fall bestimmte medizinische Richtlinien über eine zentrale Anlaufstelle weitergeleitet werden?
    Nein, unmittelbar nach dem Anschlag fand nichts dergleichen statt. Aber das Gesundheitsamt in Tokyo hat am Spätnachmittag eine Mitteilung herausgeben. Warten Sie mal ( zieht eine Akte hervor und liest ). Das Fax stammt von 16.25. »Wir danken allen, die sich der Patienten des Anschlags am heutigen Morgen in Tokyo angenommen haben. Inzwischen haben wir einige Informationen über das Giftgas Sarin zusammengetragen. Bei Sarin handelt es sich … und so weiter und so weiter.« Als uns diese Nachricht erreichte, hatten wir die Situation eigentlich schon im Griff. Die Einzigen, die sich sofort mit uns in Verbindung gesetzt haben, waren die Leute von der Shinshu-Universitätsklinik. Dass sie uns ihre Unterlagen gefaxt haben, war uns eine echte praktische Hilfe.
    Murakami: Also waren alle Krankenhäuser bei der Behandlung der Opfer mehr oder weniger auf sich selbst gestellt?
    Ja, das kann man

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