Untergrundkrieg
die Behandlung von Sarin- oder Zyanid-Vergiftungen vorbereiten. Für Zyanid-Vergiftungen halten wir sogar immer einen speziellen Behandlungskoffer bereit. Gegen Sarin gibt es zwei Medikamente: Atropin und PAM 11 . Beide hatten wir in der Vergangenheit schon verwendet.
Vor dem Anschlag in Matsumoto wusste ich fast nichts über Sarin. Es war nicht notwendig, dass wir uns damit beschäftigten, da es sich um eine spezielle, militärisch eingesetzte Substanz handelt. Aber nach dem Anschlag in Matsumoto wurden Symptome wie ein niedriger Cholinesterase-Gehalt im Blut oder eine Verengung der Pupillen festgestellt. Genug, um zu begreifen, dass es sich bei dem Giftstoff um eine organische Phosphorverbindung handeln musste.
Organische Phosporverbindungen werden seit langem bei der Herstellung von Pestiziden für die Landwirtschaft verwendet. Es ist vorgekommen, dass Menschen davon eingenommen haben, um Selbstmord zu begehen. Innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre haben wir hier zehn solcher Fälle behandelt. Einfacher ausgedrückt, Sarin ist ein gasförmiges Phosphat.
Murakami: Das heißt, wenn jemand ein Pestizid zu sich nimmt, hat das ähnliche Auswirkungen wie Sarin: ein Absinken des Cholinesterase-Gehalts im Blut und eine Verengung der Pupillen?
Ja, genau die gleichen Symptome. Übrigens kommen die Pflanzenschutzmittel meist in einer flüssigen Form auf den Markt, die sich nicht verflüchtigt. Deshalb ist es kein Problem, Rosen und so weiter damit zu besprühen. Sarin hingegen ist ein flüchtiges Organophosphat. Dank des Anschlags in Matsumoto wissen wir, dass wir bei Sarin-Vergiftungen die gleichen Behandlungsmethoden anwenden können wie bei Phosphorvergiftungen.
Da Atropin auch bei einer starken Verlangsamung des Pulses oder zur Vorbereitung auf eine Narkose gegeben wird, verwendet man es auch außerhalb der Notfallbehandlung im Krankenhaus. PAM dagegen ist ein spezielles Gegenmittel bei Vergiftungen durch Organophosphate. Das heißt, die pharmazeutische Abteilung eines Krankenhauses verfügt meist nur über einen kleinen Vorrat davon.
Als im Fernsehen über den Anschlag berichtet wurde, war von Sarin oder Zyanid die Rede. Da zu diesem Zeitpunkt auch ein paar Ärzte im Praktikum anwesend waren, sagte ich ihnen, sie sollten schon mal nachsehen, was sie über Sarin herausfinden könnten. Wir hatten die Auswirkungen des Anschlags in Matsumoto in einer meiner Veranstaltungen an der Universität durchgenommen und ein zehnminütiges Videoband aus Fernsehübertragungen als Anschauungsmaterial für die Studenten zusammengestellt. Das sollten sie sich zur Sicherheit schon einmal anschauen. Danach hatten sie eine Ahnung, dass wir es wahrscheinlich mit Sarin zu tun hatten. Falls es doch Zyanid wäre, hatten wir genug Atropin zu Verfügung. So gerüstet, warteten wir auf die ersten Verletzten.
Gegen halb zehn berichtete das Fernsehen, dass die Feuerwehr in Tokyo Acetonitril entdeckt habe. Die Feuerwehr verfügt über einen Spezialwagen, in dem chemische Analysen vor Ort durchgeführt werden können. Dabei hatten sie Acetonitril isoliert, das ein Bestandteil von Zyanid ist.
Endlich erhielten wir über unsere Hotline einen Anruf, dass wir uns bereitmachen sollten, ein Opfer des U-Bahn-Anschlags aufzunehmen. Also trafen wir alle Maßnahmen, die im Falle einer Zyanid-Vergiftung nötig sind, und warteten in der Notaufnahme. Der Patient wurde um 10.45 Uhr eingeliefert. Wenn man ihn kniff, zuckte er ein bisschen, befand sich aber sonst in einem komatösen Zustand und zeigte kaum Reaktionen. Seine Pupillen waren stark verengt. Hätte es sich um eine Zyanid-Vergiftung gehandelt, wäre eine so genannte Acidose feststellbar gewesen: eine Übersäuerung des Blutes. Acidose ist ein Hinweis auf Zyanid, wohingegen verengte Pupillen auf Sarin deuten. Das sind entscheidende Indizien bei der Diagnose.
Die Blutuntersuchung ergab keinen Hinweis auf Acidose. Die Reflexe waren sehr schwach. Wir stimmten alle überein, dass der Patient die Symptome einer Sarin-Vergiftung zeigte. Dagegen sprach der Nachweis von Acetonitril, von dem im Fernsehen die Rede war.
Um ganz sicherzugehen, behandelten wir einstweilen auf Zyanid-Vergiftung. Etwa eine halbe Stunde später erlangte der Patient das Bewusstsein zurück. Nach der Injektion besserte sich sein Zustand dramatisch, und er zeigte wieder Reaktionen.
Anscheinend hatte die Zyanid-Behandlung gewirkt. Bis heute wissen wir nicht genau warum. Es besteht die Möglichkeit, dass dem Sarin Acetonitril
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