Untergrundkrieg
Wunsch, die Sache zu vergessen, stärker als mein Zorn, ehrlich gesagt. Im Krankenhaus und am Anfang auch zu Hause wollte ich genau wissen, was passiert war. Ich stürzte mich auf jede Nachricht im Fernsehen. Doch jetzt ist mir das zuwider. Ich will nichts über den Anschlag hören; wenn in den Nachrichten etwas darüber gesagt wird, schalte ich sofort um. Ich empfinde großen Abscheu vor dieser sinnlosen Tat. Besonders, wenn ich an die Opfer denke, an die Menschen, die heute noch unter den Folgen leiden. Wenn in einem Bericht der Anschlag erwähnt wird, wird es mir noch immer eng in der Brust. So etwas darf nie wieder passieren.
Nachdem ich viele Berichte über Aum gehört habe und ein wenig über die Hintergründe Bescheid weiß, bin ich zu dem Schluss gelangt, dass die Beschäftigung mit der Sekte sich nicht lohnt. Immerhin habe ich aufgehört, den Bildschirm anzuschreien. Diese Leute haben eine ganz andere Moral, sie denken anders als wir und waren restlos von ihrer Tat überzeugt. Sie leben nicht in der gleichen Welt wie wir, es sind Menschen aus einer anderen Dimension … Nachdem mir das klar geworden war, hat mein Zorn sich etwas gelegt. Natürlich möchte ich trotzdem, dass sie rechtskräftig verurteilt werden.
Von allen Fragen hasse ich am meisten die Frage, welche Nachwirkungen ich verspüre. Ich lebe in dem Glauben, dass es mir gut geht. Es scheint kaum medizinische Probleme zu geben, obwohl es natürlich aufgrund mangelnder Erfahrungswerte Unsicherheitsfaktoren gibt. Ich hasse es nur, danach gefragt zu werden. Obwohl meine Abneigung gegen die Frage nach den Spätfolgen ebenfalls eine Spätfolge sein könnte.
Ich glaube, in mir besteht der Wunsch, das Geschehene in eine andere Dimension zu verbannen. Ich möchte es irgendwo verstauen. Möglichst aus der Welt schaffen …
Ein halbes Jahr nach dem Anschlag hätte ich mich wahrscheinlich noch geweigert, dieses Interview zu geben. Jetzt während unseres Gesprächs fällt mir auf einmal auf, dass ich seit damals nie mehr am Unglücksort gewesen bin. Ich mochte Hongo-Sanchome immer sehr, aber ich bin seitdem nicht mehr dort gewesen. Nicht, dass ich Angst hätte … es ist mir nur irgendwie unangenehm.
»Ich tippte gleich auf Sarin oder Zyanid«
Dr. Toru Saito (1948 geb.)
Dr. Saito arbeitet seit zwanzig Jahren in der Notfallmedizin der Toho-Universität von Omori. Das Personal dieses Zentrums ist auf die Behandlung von Fällen spezialisiert, bei denen Sekunden über Leben und Tod entscheiden. Häufig bleibt keine Zeit zu überlegen. Dann sind die Erfahrung und die Intuition von erfahrenen Ärzten wie Dr. Saito gefragt. Seine Kenntnisse und diagnostischen Fähigkeiten sind außergewöhnlich. Er drückt sich klar und präzise aus, und es ist äußerst beeindruckend, ihn bei seiner Arbeit zu sehen. Seine täglichen Aufgaben erlauben ihm kaum einen Moment der Entspannung. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er dennoch die Zeit für dieses Interview erübrigen konnte.
Ich bin Herz-Kreislauf-Spezialist auf der Station 2 für Innere Medizin. Im Mittelpunkt meiner Arbeit im Zentrum stehen daher Sofortmaßnahmen bei Herzinfarkten und anderen Störungen in diesem Bereich. Das Zentrum hat ein Team aus erfahrenen Ärzten verschiedener medizinischer Spezialbereiche zusammengestellt, von denen jeder über mindestens fünf bis fünfzehn Jahre Erfahrung verfügt. Etwa zwanzig Ärzte arbeiten hier rund um die Uhr.
Am Tag vor dem Sarin-Anschlag war ich der verantwortliche Stationsarzt. Dieser Dienst geht von Sonntagmorgen neun Uhr bis Montagmorgen neun Uhr. Während des Tages arbeite ich gewöhnlich auf der Station und kümmere mich um die Patienten.
Am Morgen saß ich mit einer Instantnudelsuppe im Ärztezimmer und sah fern. Zehn oder fünfzehn Minuten nach acht trafen die ersten Berichte ein: »Giftgasanschlag im U-Bahnhof Kasumigaseki. Mehrere Schwerverletzte.« Ich tippte sofort auf Zyanid oder Sarin, denn Sarin war ja auch bei dem Anschlag in Matsumoto im Spiel gewesen.
Murakami: Also hielten Sie es nicht für möglich, dass es sich um Gas aus den städtischen Gasleitungen handelte?
Das wäre in einer U-Bahn-Station sehr unwahrscheinlich. Ich vermutete von Anfang an ein Verbrechen. Nach dem Anschlag in Matsumoto war der Verdacht ja bereits auf die Aum-Sekte gefallen. Daher hatte ich sofort die Assoziation »Giftgas – Verbrechen – Aum – Sarin oder Zyanid …«.
Ich rechnete damit, dass die Opfer in unsere Klinik gebracht würden. Also sollten wir uns auf
Weitere Kostenlose Bücher