Untergrundkrieg
sagen. Es gab nur unzureichende Kenntnisse über Sarin, und so traten viele Probleme auf. In einem Krankenhaus zum Beispiel wurde den behandelnden Ärzten und Krankenschwestern plötzlich selbst schwindlig. Das lag daran, dass die Kleider der Patienten mit Sarin getränkt waren. Das Personal hatte nicht gewusst, dass es die Kranken sofort hätte ausziehen müssen. Wir selbst hatten am Anfang auch nicht daran gedacht. In unserer Klinik wurden ein Schwerverletzter und sechsundzwanzig leichter Verletzte behandelt.
HIBIYA-LINIE (ab Naka-Meguro)
Zugnummer B 711 T
Toru Toyoda setzte das Sarin in einem Zug der Hibiya-Linie frei, der von Naka-Meguro zum Tobu-Tiergarten fuhr. Katsuya Takahashi war sein Fahrer.
Toyoda wurde 1968 in der Präfektur Hyogo geboren. Zur Zeit des Anschlags war er siebenundzwanzig Jahre alt. Er hatte angewandte Physik an der Universität von Tokyo studiert und ein ausgezeichnetes Examen abgelegt. In einem Labor für weiterführende Studien absolvierte er seine Magisterprüfung und war schon dabei zu promovieren, als er plötzlich sein Studium aufgab und der Aum-Sekte beitrat. Toyoda gehörte also zu den zahlreichen Naturwissenschaftlern innerhalb der »Superelite« von Aum und war Mitglied der »Chemie-Brigade« des Ministeriums für Wissenschaft und Technik.
Bei der Verhandlung trug Toyoda kurz geschnittenes Haar, ein weißes Hemd und eine schwarze Jacke. Seine Wangen waren eingefallen und sein Gesicht angespannt. Ein junger Mann, der mit seinem ernsthaften, zornigen Blick den Anschein eines »Wahrheitssuchers« erweckt. Er scheint der Typ zu sein, der niemals aufgibt, sobald er sich einmal zu etwas entschlossen hat, ein Mensch, der jede Aufgabe zu Ende führt. Vielleicht gehört er auch zu jenen Menschen, die sich freiwillig einem Prinzip opfern. Er wirkt hochintelligent, ist aber offenkundig nur an direkten, messbaren Fakten und Ergebnissen interessiert.
Er hat lange Shaolin-Kungfu praktiziert und hält den Rücken sehr gerade, das Kinn zeigt nach unten, die Lider sind wie aus Bescheidenheit oder zur Meditation gesenkt. Während der vielen Prozessstunden änderte er diese Haltung kaum. Nur wenn es im Gerichtssaal zu einer ungewöhnlichen Bewegung kam, öffnete er ruhig die Augen und sah sich um, ohne dass sein Blick an irgendetwas haften blieb. Toru Toyoda wirkte wie ein strenger Asket – vielleicht meditierte er wirklich die ganze Zeit.
Der Gegensatz zwischen ihm und dem kindischen, von sich eingenommenen Ken’ichi Hirose neben ihm hätte krasser nicht sein können. Als Beobachter konnte man sich einfach nicht vorstellen, was in Toyoda vorging. Er schien seine Gefühlsregungen durch Willenskraft zu kontrollieren.
Toyoda hatte am 18. März von Hideo Murai, seinem Vorgesetzten im Ministerium für Wissenschaft und Technik, den Befehl erhalten, Sarin in der U-Bahn freizusetzen. Bis dahin war er mit der Entwicklung der Laserwaffe beschäftigt gewesen und hatte sich bereits bei verschiedenen illegalen Aktionen die Hände schmutzig gemacht. Aber selbst Toyoda war über den Plan, Sarin in der Metro freizusetzen, erschrocken. Aufgrund seiner Chemiekenntnisse und da er bereits an der geheimen Herstellung von Sarin in Satyam 7 beteiligt gewesen war, vermochte er sich die schwerwiegenden und tragischen Folgen des Anschlags leicht vorzustellen. Er konnte einschätzen, dass es um nichts Geringeres als einen Massenmord ging, den er mit eigenen Händen ausführen sollte.
Natürlich litt Toyoda unter inneren Zweifeln und Ängsten. Jeder einigermaßen aufrechten Person mit normalen menschlichen Empfindungen muss eine solche Tat unvorstellbar grausam erscheinen. Doch sich einem Befehl des »Meisters« zu widersetzen war gleichermaßen unvorstellbar. Es war, als sei er in einen Wagen gestiegen, der mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einen steilen Abhang hinunterraste. Er konnte nicht mehr anhalten, und es fehlte ihm auch an Mut und Initiative, noch rechtzeitig auszusteigen.
Toyoda blieb nichts anderes übrig, als sich – wie es auch sein Kollege Hirose tat – mit verstärkter Konzentration der Lehre zu widmen, alle aufkommenden Zweifel niederzuhalten, seine Gefühle abzutöten, seine Vorstellungskraft im Zaum zu halten und die Tat zu rechtfertigen. Es war leichter, blind zu gehorchen, als Verantwortung zu übernehmen und mit Kraft und Entschlossenheit aus dem Wagen zu springen.
Toyoda verließ um 6.30 das Ajid in Shibuya, und Takahashi fuhr ihn mit dem Wagen in Richtung der Station Naka-Meguro.
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