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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Toyoko-Linie eingestiegen, fing ich an, mein Buch zu verschlingen, denn es war ausgesprochen spannend. Deshalb habe ich beinahe nicht gemerkt, dass die Bahn schon in Naka-Meguro war.
    Dort stellt man sich in Dreierreihen auf dem Bahnsteig der Hibiya-Linie auf. Ich stelle mich meist am dritten Wagen von vorne an, weil man da leichter einen Sitzplatz bekommt, aber an dem Tag war ich so mit meinem Buch beschäftigt, dass ich vor dem sechsten Wagen landete.
    Die Tür ging auf, ich bog nach rechts ein und ergatterte den dritten Sitz. Dann kam eine Frau und quetschte sich noch als Vierte auf die Bank, die eigentlich nur für drei Personen vorgesehen ist. Deshalb wurde es ein bisschen eng, und ich holte lieber gleich mein Buch aus der Tasche meines dünnen Frühjahrsmantels, damit ich später nicht herumwursteln musste. Ich hatte nur noch zehn, zwanzig Seiten zu lesen und wollte bis zum Aussteigen das Buch fertig kriegen. Ich vertiefte mich also zwei, drei Minuten in meine Lektüre. Aber in Hiroo fiel mir plötzlich ein Mann in einem Ledermantel zu meiner Linken auf. Obwohl das Buch mich fesselte, nahm ich einen komischen Geruch wahr. Leder riecht ja auch manchmal seltsam. Es roch nach einem Desinfektionsmittel oder Nagellackentferner. »Der Kerl stinkt«, dachte ich und starrte ihn an. Er starrte zurück, wie um zu sagen »Ist was?«
    Weil es so sehr stank, starrte ich ihn jedoch weiter an, aber er ignorierte mich und schaute an mir vorbei nach rechts. Ich folgte seinem Blick und sah ein etwa schreibheftgroßes Ding zu Füßen der Person liegen, die zwei Plätze rechts von mir saß. Eine Art Plastikbeutel. In den Nachrichten hieß es, er sei in Zeitungspapier eingewickelt gewesen, aber ich habe nur den Plastikbeutel gesehen. Und irgendetwas lief heraus.
    »Aha«, dachte ich, »das stinkt hier so.« Trotzdem blieb ich sitzen. Dass die dritte Person rechts von mir verschwunden war, merkte ich irgendwo zwischen Hiroo und Roppongi.
    Mittlerweile beschwerten sich alle über den Geruch und rissen die Fenster auf. Alle redeten durcheinander. Ich dachte noch: »Muss das sein, bei dieser Kälte die Fenster aufzureißen? So sehr stinkt es ja nun auch wieder nicht.« Dann kam eine ältere Dame und setzte sich neben mich, aber der ganze Boden war nass, also stand sie wieder auf und setzte sich auf einen Sitz gegenüber. Dabei stapfte sie mitten durch die Sarin-Lache.
    Im hinteren Teil des Wagens saß jetzt kaum noch jemand, alle waren nach vorne geflüchtet und beschwerten sich über den Gestank. Wir näherten uns Roppongi. Mittlerweile drehte sich schon alles in meinem Kopf. Die Durchsage »Nächste Haltestelle Roppongi« ertönte. Ich vermutete, mein Blutdruck sei abgesackt, denn die Symptome waren ganz ähnlich. Mir war übel, ich hatte Sehstörungen, und der Schweiß brach mir aus.
    Allerdings stellte ich keine Verbindung zu dem Geruch her. Ich war überzeugt, es läge an meinem Kreislauf. Viele von meinen Verwandten sind Ärzte, also kenne ich den Geruch von Spiritus und Desinfektionsmitteln sehr genau und redete mir ein, irgendein Mediziner habe einen Beutel davon verloren und der Inhalt sei herausgeflossen. Ich ärgerte mich, dass niemand das Zeug wegräumte. Heutzutage kommt alles immer mehr herunter. Wenn es mir ein bisschen besser gegangen wäre, hätte ich den Beutel wahrscheinlich selbst aufgehoben und auf den Bahnsteig geworfen.
    Nein, ich habe nicht daran gedacht, den Sitz zu wechseln. Der Geruch kam mir bekannt vor, und ich fühlte mich nicht besonders belästigt. Ich habe mich nur über den Aufruhr gewundert und hätte es besser gefunden, die Fenster zu schließen, weil es so kalt war. Ansonsten habe ich mich nur gefragt, warum ich so erschöpft war.
    Aber hinter Roppongi, als der Zug abbremste, wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich fühlte mich so mies, dass ich in Kamiyacho aussteigen, zwei oder drei Bahnen abwarten und mich etwas ausruhen wollte. Aber ich konnte nicht aufstehen, meine Beine versagten. Ich packte einen Haltegriff und zog mich daran hoch. Mein Buch war mir schon aus der Hand gefallen. Ich hangelte mich von Haltegriff zu Haltegriff, bis ich zu einer Stange an der Tür kam, die ich umklammerte. Eine Hand hielte ich ausgestreckt, um mich an der Wand des Bahnsteigs abzustützen, und stieg aus. Ich dachte noch, wenn ich die Wand nicht erreichte, würde ich auf den Boden stürzen und mir den Kopf aufschlagen. Dann verlor ich das Bewusstsein.
    In Wirklichkeit bin ich gar nicht ausgestiegen. Ich

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