Untergrundkrieg
stehen.
Ich halte mich nie an den Griffen fest. Weil sie so schmutzig sind. Das haben meine Eltern mir eingeschärft, als ich klein war. Ich stehe freihändig.
Murakami: Das ist sicher richtig, aber ist es denn nicht unsicher, sich nirgends festzuhalten?
Meine Beine sind kräftig vom Tennisspielen. Ich trage hohe Absätze und habe einen sicheren Stand.
Ich nehme immer die Bahn um 8.03 in Richtung Tobu-Tiergarten und sehe meist dieselben Gesichter. Unheimlich viele husteten. Bis Roppongi vermutete ich, alle seien erkältet. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, dachte ich und hielt mir ein Taschentuch vor den Mund.
Aber als wir in Roppongi hielten, stiegen etwa fünf Leute aus dem ersten Wagen und rannten zum Stationsvorsteher, der immer ganz vorne auf dem Bahnsteig steht. Die fünf Fahrgäste stürzten aus der Tür, als hätten sie es gar nicht erwarten können. Das wunderte mich. Anscheinend beschwerten sie sich über etwas. Deshalb fuhr der Zug mit einer kleinen Verspätung weiter.
Kurz vor Kamiyacho sagte ein Mann neben mir plötzlich: »Ich kann nichts mehr sehen.« Ein anderer brach zusammen. Links von mir schwankten einige Leute und stürzten dann zu Boden. In dem Moment brach das Chaos aus. Ein Mann rief: »Fenster auf. Sonst sterben wir«, und riss alle Fenster im Waggon auf.
Als der Zug in Kamiyacho ankam, schrien alle durcheinander: »Raus! Alle raus! Aussteigen!« Ich hatte keine Ahnung, was los war, stieg aber vorsichtshalber aus. Der Mann, der gesagt hatte, er könne nicht mehr sehen, stieg auch aus und brach auf dem Bahnsteig zusammen. Ein anderer Mann ging zur Fahrerkabine und hämmerte gegen die Scheibe. Der Stationsvorsteher von Kamiyacho stand am Ende des Bahnsteigs und informierte den Fahrer, dass etwas nicht in Ordnung war.
Der Beutel mit Sarin war an der dritten Tür des ersten Wagens abgelegt worden. An der Tür, durch die ich normalerweise einsteige. Als alle ausgestiegen waren und die Bahn leer war, habe ich es gesehen. Ein viereckiges Päckchen, aus dem eine Flüssigkeit austrat und eine Pfütze auf dem Boden bildete. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass das die Ursache sein müsse. Aber vorher hatte man es wegen der Fülle in der Bahn nicht sehen können. Der Mann, der direkt vor dem Beutel gesessen hat, soll gestorben sein. Als der Zug in Kamiyacho einlief, stand ihm Schaum vor dem Mund, und er war anscheinend bewusstlos. Ein paar Leute trugen ihn aus dem Zug. Alle Fahrgäste aus dem ersten Wagen stiegen aus.
Mehrere Menschen kippten einfach auf dem Bahnsteig von Kamiyacho um. Noch mehr kauerten am Boden oder lehnten sich gegen die Wände. Ich fragte den Mann, der nicht mehr sehen konnte, wie es ihm gehe.
Es war mir schon klar, dass etwas Außergewöhnliches im Gange sein musste, aber ehrlich gesagt, so etwas Ernstes hätte ich nicht vermutet. Japan ist doch ein so sicheres Land. Waffen und Terroristen und so was gibt es bei uns nicht. Bis dahin habe ich nicht eine einzige beängstigende Erfahrung gemacht. Auch damals kam ich gar nicht auf die Idee, dass ich in Gefahr sein könnte und mich lieber aus dem Staub machen sollte. Es kann immer jemandem in der Öffentlichkeit schlecht werden, dann bietet man normalerweise seine Hilfe an. So war es auch auf dem Bahnsteig, die Fahrgäste kümmerten sich umeinander.
Schon als ich eingestiegen war, hatte ich das Gefühl gehabt, dass irgendetwas nicht stimmte. Es roch nach Farbverdünner oder Nagellackentferner. Ein durchdringender Geruch. Trotzdem konnte ich normal atmen, und mir war auch nicht übel. Weder in Roppongi noch in Kamiyacho. Vielleicht weil ich mir die ganze Zeit ein Taschentuch vor Mund und Nase gehalten habe. Aber ich hatte Kontakt mit Leuten, denen schlecht war, habe mit ihnen gesprochen und sie berührt. Vielleicht habe ich dabei etwas abbekommen. Darüber grüble ich immer wieder nach.
Die nachfolgende Bahn hatte schon die Station davor verlassen, und unser Zug musste weiterfahren, nur der erste Wagen war geräumt. Die Durchsage lautete: »Dieser Zug fährt bis Kasumigaseki. Bitte steigen Sie nicht in den ersten Wagen ein. Alle anderen Wagen stehen zu Ihrer Verfügung.« Meine größte Sorge war, dass ich zu spät zur Arbeit käme. Natürlich hatte ich ein etwas schlechtes Gewissen, die kranken Leute auf dem Bahnsteig zurückzulassen, aber meine Angst, an einem so wichtigen Tag zu spät zu kommen, war stärker.
Ich wollte so weit weg wie möglich von dem Beutel sein und ging ganz nach hinten bis zum vierten Wagen. Als
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