Untergrundkrieg
ist die Logistik. Das heißt, wie kann man die Opfer in einer sinnvollen Reihenfolge behandeln, die der Schwere ihrer Verletzungen entspricht? Natürlich müssen die ernsteren Fälle rascher behandelt werden als die leichteren. Hätten die Ärzte die Verletzten in der Reihenfolgen behandelt, in der sie eingeliefert wurden, hätte es viel mehr Tote geben. Wenn man die Situation nicht gut einschätzen kann, und Leute kommen herein und schreien: »Ich kann nichts mehr sehen«, kann das Ganze leicht in Panik ausarten. Wen soll der Arzt zuerst behandeln? Den, der keine Luft kriegt, oder den, der nichts mehr sieht? In akuten Notsituationen solche Entscheidungen treffen zu müssen ist das Schwierigste am Arztberuf überhaupt.
Murakami: Gibt es für Katastrophenfälle dieser Art ein Handbuch für Ärzte, nach dem sie sich richten können?
Nein, so etwas gibt es nicht. Bis zum Anschlag in Matsumoto hatten wir auch keinerlei Erfahrung mit derartigen Situationen.
Als ich gegen Mittag wiederkam, klingelten überall ununterbrochen die Telefone. Alle möglichen Krankenhäuser baten uns um Informationen, denn in über hundert Einrichtungen gab es Sarin-Opfer. Den ganzen Tag über schickten wir ein Fax nach dem anderen raus.
An einem normalen Tag ohne Abschlussfeier hätte ich ab halb neun Uhr morgens bis zum Hals in Arbeit gesteckt. Auch wenn ich irgendwie von dem Anschlag in Tokyo erfahren hätte, hätte ich doch bis zum Mittag keine Zeit gefunden, den Fernseher einzuschalten. Wahrscheinlich wären wir dann außerstande gewesen, so schnell zu reagieren. Zumindest das war eine glückliche Fügung.
Das Wirkungsvollste wäre gewesen, sich direkt mit der Feuerwehr in Verbindung zu setzen und ihr die Verteilung der Informationen zu übertragen. Aber alle unsere Versuche, die Feuerwehr zu erreichen, schlugen fehl.
Aus den Anschlägen in Tokyo und Matsumoto haben wir eine sehr wichtige Lehre gezogen: Auch wenn einzelne Rettungsdienste sehr effizient reagierten, klappte doch die Interaktion nicht. In Japan existiert kein übergreifendes System einer wirkungsvollen Katastrophenbekämpfung, es gibt keine Kommandozentrale. Beim großen Erdbeben von Kobe war es das Gleiche.
Ich finde, dass bei beiden Ereignissen der medizinische Apparat sehr adäquat reagiert hat. Auch die Notdienste und Sanitäter haben sich bewährt und großes Lob verdient. Ein amerikanischer Experte hat gesagt, die geringe Zahl von elf Toten bei 5000 Vergiftungsopfern grenze an ein Wunder. Das ist einzig dem Einsatz der Kräfte vor Ort zu verdanken, denn ein übergreifendes Alarmsystem hat nicht funktioniert.
Wir haben Verbindung zu über dreißig medizinischen Einrichtungen gehabt. In den Sieben-Uhr-Nachrichten am nächsten Morgen war von siebzig Schwerverletzten die Rede. Auch von einer verhältnismäßig schweren Sarin-Vergiftung kann sich ein Mensch bei entsprechender Behandlung innerhalb weniger Stunden erholen. Die Kenntnis macht den großen Unterschied.
Damals wollte ich unbedingt so viele Informationen wie möglich weitergeben und rief das Gesundheitsamt in Tokyo an, aber niemand ging ans Telefon. Erst nach halb neun erreichte ich endlich jemanden. Allerdings erklärte mir die Person, die abhob, sie hätten zu viel tun. Die machen ja nicht mal Nachtdienst, was sollte das also heißen?
Die Feuerwehr hätte schneller vor Ort sein, die Lage überblicken und Einsatzteams stellen müssen, die, mit präzisen Anweisungen ausgestattet, die Verletzten sozusagen vorsortierten. Dann hätten auch die Sanitäter sinnvoller vorgehen können. Außerdem hätte man auch mehr Notärzte gebraucht. Spezialisten können durchaus eine Panik verhindern.
Ehrlich gesagt, es ist im medizinischen Bereich beinahe undenkbar, dass Ärzte ungebeten irgendwelche Informationen an andere Krankenhäuser weitergeben. Jeder meint, es sei besser, den Mund zu halten und seine Kompetenzen nicht zu überschreiten. Doch bei diesem Anschlag hatte ich noch einen ganz anderen Gedanken.
Eine der sieben Personen, die in Matsumoto ums Leben gekommen sind, war eine Medizinstudentin unserer Universität. Eine besonders aufgeweckte Studentin, der eigentlich ein Platz bei der Examensabschlussfeier an diesem Tag gebührt hätte. Das hatte ich im Herzen behalten.
HIBIYA-LINIE (von Kita-Senju nach Naka-Meguro)
Zugnummer A 720 S und A 738 S
Yasuo Hayashi und Shigeo Sugimoto hatten den Auftrag, Sarin in einem Zug der Hibiya-Linie freizusetzen, der von Kita-Senju nach Naka-Meguro fuhr.
Hayashi ist 1957
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