Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
einen kam es nicht alle Tage vor, dass ein leibhaftiges Mordopfer begraben wurde, zum anderen war dieser Verstorbene ein allseits geachteter Ehrenmann gewesen, einer, der die alten Bräuche hochgehalten hatte und der aus der verwahrlosten Alm ein glänzendes Symbol des prosperierenden Fremdenverkehrskurortes gemacht hatte. Wenigstens die ersten zwei Jahre lang.
Die Blasmusik verstummte, nur die Basstuba erlaubte sich noch ein paar Töne extra. Dann sprach der Pfarrer, er hielt seine Rede wirklich weihrauchduftend und salbungsvoll, er erwähnte auch ausdrücklich, dass es ohne solche wie den Ganshagel ganz anders ausschauen würde im Loisachtal. Aber ganz anders. Das Wetter war herrlich, das Gipfelkreuz der Kramerspitze blitzte listig herunter auf die gutgekleidete Trauergemeinde, die vier Sargträger zogen die Seile wieder herauf und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Die Blasmusik spielte die zweite Strophe des 1972er Hits.
»Ja, sag einmal: Was ist denn da droben los?«, fragte die Hirnbircher Ludmilla ihre Nachbarin und deutete in die Höhe, gegen die Sonne, hinauf zu einer bestimmten Stelle am massiven Bergsockel des Kramergebirges. »Irgendwas blitzt da, Frau Nachbarin. Ich kann aber ohne Brille nicht sehen, was das ist.«
Die Nachbarin kniff die Augen zusammen und lugte nach oben, sie konnte aber ebenfalls nichts erkennen.
»Du meinst die Stelle zwischen dem Spickenfrieder und der Königsleite?«, fragte sie. »Dahinter liegt doch die Wolzmüller-Alm, oder nicht?«
Man hatte vom Friedhof aus keinen direkten Blick auf die Wolzmüller-Alm, natürlich nicht, deshalb war sie ja ausgewählt worden von den dunklen Mächten zu heimlichen und blickgeschützten Treffen. Aber weiter unten konnte man ein Stück des Wegs sehen, der hinauf zur Alm führte. Und genau an dieser Biegung, da blinkte und blitzte es. Außer der Hirnbircher Ludmilla war das niemandem aufgefallen, die anderen Trauergäste konzentrierten sich auf die Leich’, denn heute war viel geboten auf dem Viersternefriedhof. Jetzt zum Beispiel kam ein Programmpunkt, bei dem alle unwillkürlich ein Stück näher traten, hin zum offenen Grab des verblichenen Hüttenwirts. Dort baute sich nämlich der Rösch Sigi auf, der in voller Werdenfelser Tracht gekleidet war. Alles stimmte an ihm, er stand da, als wäre er gerade aus dem Heimatkundebuch herausgesprungen. Er hatte heute nur zusätzlich eine schwarzsamtene Trauerschärpe um, die leicht im Wind flatterte. Der Rösch Sigi trat ans offene Grab, stellte sich in Positur, seine Hände formten einen Trichter vor dem Mund, und dann legte er los: Djäädui-o … jodelte er hinunter in die Grube, die Trompeten von Jericho waren ein müdes Säuseln dagegen. Der Rösch Sigi pflegte nämlich den alten Brauch des Ins-Grab-Nachjodelns. Der Rösch Sigi war der Einzige, der diesen schönschaurigen Brauch noch pflegte. Dabei wurden ganz besondere, oft extra für den Verstorbenen komponierte, klagende, elegische Jodler gejodelt, die an das Totengeplärr der antiken Klageweiber erinnerten. Die Kunst war auch die, sich möglichst weit vorzubeugen, dabei jedoch nicht hineinzufallen ins frisch Ausgeschaufelte – was leider schon öfters vorgekommen war und als böses Omen für die hinterbliebene Familie gewertet wurde.
»Schön jodelt er wieder, der Rösch Sigi«, sagte die Hirnbircher Ludmilla zu ihrer Nachbarin. Und sie musste weinen.
»Weshalb weinen Sie?«, fragte sie ein hinter ihr stehender Mann. Sie drehte sich um. Ihr Blick fiel auf drei unauffällige ältere Herren in europäischen, bequemen Sommeranzügen. Sie trugen verspiegelte Sonnenbrillen. Einheimische waren das nicht, das konnte man sehen. Man hätte sie für Touristen halten können, zum Beispiel für drei Amerikaner aus Springfield/Illinois, die den bayrischen Sitten und Gebräuchen hobbymäßig auf der Spur waren. Einer hob eine Videokamera und filmte den Rösch Sigi, obwohl doch das Optische am Rösch Sigi das am wenigsten Schmeichelhafte war. Im Zentrum stand seine Jodelei. Diöui-haija … knödelte und jauchzte er, und alle drei führten die Hand zum Ohr, um ihm besser lauschen zu können. Sie stützten sich auf ihre Stöcke.
»Wenn der Rösch Sigi jemandem ins Grab nachjodelt«, sagte die Hirnbircher Ludmilla, »dann muss ich immer weinen.«
»Ins-Grab-Nachjodeln! Von diesem Brauch haben wir noch nie gehört«, sagte Pratap Prakash verwundert.
Die Pensionswirtin Rosalinde Üblhör hatte den (wie sie meinte) amerikanischen
Weitere Kostenlose Bücher