Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
hob den Kopf, zog sich über die Kante des Bodenplateaus und wagte einen Blick ins Innere des Hubschraubers. Die Äbtissin saß jetzt auf dem Steuersitz. Die eine Hand hatte sie schon am Steuergriff, in der anderen hielt sie immer noch die Waffe. Sie hatte Jennerwein den Rücken zugewandt. Es war viel zu laut, um sich bemerkbar zu machen. Und ihr ohne Vorwarnung in den Rücken schießen? Nein. Er musste ihre Hand treffen, und das musste beim ersten Schuss klappen. Jennerwein kam vollkommen zur Ruhe. Es war so ruhig, dass er nur noch sein eigenes Atmen hörte. Jennerwein setzte einen Fuß auf die Treppe, stützte sich ab und hob die Waffe. Doch jetzt, verdammt nochmal! Der Pilot hatte sich wieder aufgerappelt und sich zwischen ihn und die Äbtissin mitten in die Schussbahn gesetzt. Jetzt war es unmöglich, eine Kugel abzufeuern. Jennerwein ließ die Waffe sinken und griff in die Tasche. Dort steckte das kurze Ende der Drahtschlinge, mit dem seine Hände gefesselt worden waren.
Plötzlich ging ein Ruck durch den Hubschrauber, der Pilot rutschte zur Seite, er wurde durch die Luft geschleudert und knallte unsanft gegen die Seitenscheibe. Jennerwein hielt sich am Gestänge fest, er strampelte, er fand keinen Boden mehr unter den Füßen. Die Äbtissin hatte den linken Steuerhebel hochgezogen und war mit dem Helikopter gestartet. Die Motoren jaulten auf, er hatte abgehoben, er musste schon ein paar Meter Höhe erreicht haben. Jennerwein durchschoss eine Welle heißer Wut. Jetzt hatte er die Gelegenheit, anzugreifen, endgültig versäumt. Der Hubschrauber drehte und schwenkte, mit einem Riesensatz wurde der Kommissar durch den hinteren Fahrgastraum geschleudert. Er krachte mit den Schultern an eine Eisenstrebe, doch er konnte sich festhalten. Durch die Schwenkbewegung des Hubschraubers war er ins Innere geworfen worden. Er war jetzt nur noch zwei Meter entfernt von der Äbtissin. Plötzlich drehte sie sich um. Ihre Blicke trafen sich. Sofort riss sie ihre Waffe in seine Richtung, doch es war für sie unmöglich, mit einer Hand abzudrücken. Sie musste Höhe gewinnen, um beidhändig schießen zu können. Jennerwein zog sich an der Strebe hoch, er stellte sich breitbeinig hin, um einigermaßen Stand in dem in alle Richtungen trudelnden Gefährt zu haben. Er ließ die Drahtschlinge durch die Hand gleiten und spannte sie. Dann hechtete er auf die Frau zu, er warf ihr die Schlinge über den Kopf, zog sie zu und riss den Draht nach oben. Der taumelnde Hubschrauber verstärkte seine Bemühungen nur. Die Äbtissin war auf alles Mögliche gefasst, aber mit ihrer eigenen Waffe angegriffen zu werden – das hatte sie nicht erwartet. Sie ließ den Steuerbügel los, der Hubschrauber kippte nach einer Seite ab. Jennerwein hielt die Schlinge fest in der Hand. Die Augen der Äbtissin weiteten sich. Ihre Hand, die die Uzi umfasste, zitterte. Die Hand erschlaffte. Die Finger der Hand öffneten sich langsam, sie ließen die Uzi los. Die Waffe fiel zu Boden. Sie rutschte aus dem Hubschrauber und fiel hinunter in die Tiefe. Bewusstlos kippte die Äbtissin vom Pilotensitz. Jennerwein warf einen Blick aus dem Fenster. Der Hubschrauber schien sich in dreißig Meter Höhe zu befinden. Vielleicht waren es auch hundert Meter. Wenn man noch nie im Leben in einem Hubschrauber geflogen ist, kann man das schlecht abschätzen.
Dieses Buch ist auf chlorfreiem Papier gedruckt. Das Holz stammt aus den Lärchen- und Zirbelbeständen der Wolzmüller-Alm.
Eine schöne Leich’
Unter einer Leich’ versteht man im Bayrischen nicht nur den Körper des Verstorbenen, sondern so nennt man auch die anschließende Beerdigung, um die sich viele Sitten, Bräuche und G’spaßettln ranken. Zu einer authentischen oberbayrischen Leich’ gehören neun Dinge: eine Rührung, eine Blasmusik, eine Schützensalve der Gebirgsjäger, eine traurige Rede auf den Verstorbenen, eine staade Totenmesse, eine Schlägerei, ein Zirbelholzsarg, ein opulenter Leichenschmaus, schließlich natürlich der Tote selbst. Der Tote selbst – das war in diesem Falle der ehemalige Hüttenwirt Rainer Ganshagel, und er wurde sanft und vorsichtig hinuntergelassen in das Ganshagel’sche Familiengrab. Der Kies knirschte, die Blasmusik spielte Ja, mia san mit’m Radl da … – das war 1972 einer der deutschen Nummer-eins-Hits, und 1972 war das Geburtsjahr Ganshagels. Der Viersternefriedhof, der sich unterhalb des Kramergebirges ausbreitete, füllte sich zusehends mit Trauergästen, denn zum
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