Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Seminarteilnehmer ein. Es hatte bisher kaum ein Seminar ohne Leibwächter gegeben. Es waren mürrische Muskelberge mit militärischer Vorgeschichte, humorlose Grantler mit Blicken wie Dolche und Fragen wie Handgranaten. Je wichtiger die Leute, desto mehr Leibwächter. Überraschenderweise hatte Ganshagel bei den jetzigen Seminarteilnehmern überhaupt keine Bodyguards gesehen. Waren die Teilnehmer nicht so schützenswert? Oder waren die Bodyguards so gut, dass man sie nicht sah? Eigentlich ging es ihn nichts an. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sich nicht einzumischen. Er managte einen diskreten Rückzugsort für Geschäftsleute und Mitglieder der Wirtschaftselite. Damit verdiente er sein Geld.
Für Rainer Ganshagel war der mitternächtliche Kontrollgang Routine. Ein paarmal hatten sich zu dieser Stunde Jugendliche angeschlichen, einfach so, nur der Neugier wegen. Sie waren leicht zu verscheuchen gewesen. Ein anderes Mal hatten sich Fotografen nachts angepirscht, der Grund dafür mussten wohl die anwesenden hohen Wirtschaftsbosse gewesen sein. Und erst letzten Monat hatte der Bürgermeister höchstpersönlich mit ein paar Mitgliedern des Gemeinderats die Alm hier oben besucht. Allerdings tagsüber. Viele Inder waren mitgekommen, es wimmelte von Bhartriharis und Chattopadhyays. Sie deuteten viel herum in der Gegend, diese Inder, sie fotografierten und filmten die Berge, es musste also um Dreharbeiten gehen, dachte Ganshagel bei sich. Und richtig: Am nächsten Tag wurden Probeaufnahmen gemacht. So ein Typ wie Aamir Khan, die Bollywood-Größe, vielleicht war er es auch selber, stand da und sagte etwas auf Hindi. Sieben mit bunten Seidensaris umwickelte Schönheiten aus Mumbai-Andheri umtanzten ihn singend, während er mit ausladender Geste auf die zackigen Spitzen der Waxensteine wies. Das alles wurde mit mehreren großen Kameras gefilmt, und die Filmcrew hatte gelacht und die Gläser erhoben mit einem milchigweißen Zeug drin, das Lassi genannt wurde.
»Gell, da schaugst, Ganshagel«, hatte der Bürgermeister gesagt.
Doch auch das war schon einige Zeit her. Ganshagel war nun etwa zweihundert oder dreihundert Meter von den Schlafräumen der Alm entfernt. Er zündete sich eine Zigarette an. Drinnen in den Holzgebäuden herrschte strengstes Rauchverbot. Er nahm einen tiefen Zug. Es mochte ein Jahr her sein, da hatte er ein ziemlich erhebendes Erlebnis gehabt. Für ein Wochenende waren wenige Leute angemeldet, höchstens acht. Es waren sehr alte Leute, selbst die Leibwächter waren alt. Dann wurde ein kleines Männchen in einem gepanzerten Jeep vorgefahren, das Gesicht zerfurcht und knollennasig, die schlohweißen Haare streng nach hinten gekämmt. Das war doch nicht etwa … Doch, er war es. Er war es leibhaftig! Ganshagel hatte in diesem besonderen Fall gewagt, sich dem Kunden zu nähern.
»Wie darf ich Sie anreden?«
Überraschenderweise antwortete der Knollennasige mit den schlohweißen Haaren freundlich.
»Am besten Sie vermeiden die Anrede, da können Sie nichts falsch machen. Wollen Sie ein Autogramm? Eine Segnung?«
Ganshagel wollte kein Autogramm. Auch keine Segnung. Er hatte eine Frage, die ihm schon lang auf den Nägeln brannte.
Ganshagel schritt die mondbeschienene Steilwiese hinunter, er kannte hier jeden Tritt und jedes Mäh und Möh der Schafe, die dort lagerten. Er wusste, wo der wilde Schnittlauch wuchs. Die Alm war perfekt für heimliche Treffen aller Art geeignet, die Zugangswege waren vielfältig, verschlungen und gut kontrollierbar. Ganshagel sah die Gestalt schon von weitem. Sie schien gemütlich dazusitzen, entspannt an einen Baum gelehnt, wie bei einem Picknick. Sie trug einen ausladenden Hut, ein zarter Wind bewegte das Haar leicht, und Ganshagel wollte zunächst einen großen Bogen um sie machen, um nicht zu stören. Eine nachdenkliche Gestalt eben, die noch weitverzweigte Pläne schmiedet, kurz nach Mitternacht. Die noch über Börsenbewegungen in Fernost nachsinnt oder über das Leben im Allgemeinen. Doch man hat ein Gespür als Almwirt, und so trat Ganshagel misstrauisch und vorsichtig näher.
»Entschuldigen Sie –«, rief er.
Keine Antwort. Er schaltete die Taschenlampe ein und beleuchtete die eher zierliche Gestalt der Frau. Das Gesicht war von der breiten Krempe des Schlapphuts verdeckt. Er ließ den Lichtstrahl nach unten wandern. Schon die verdrehte Stellung der Finger ließ nichts Gutes ahnen.
»Entschuldigen Sie –«, rief er nochmals lauter.
Wieder keine
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