Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
wenigstens ausgezogen und über einen tiefen Ast der angeblich sechshundertjährigen Lärche gehängt.
»Es war irgendwas drin in den Knödeln, was bei den anderen nicht drin war. Wir haben versucht, es aus dem Onkel Benedikt herauszukitzeln, aber er hat das Geheimnis mit ins Grab genommen. Erst ein Jahr nach seinem Tod habe ich bemerkt, dass ich noch ein paar Knödel von Onkel Benedikt in der Tiefkühltruhe eingefroren hatte. Einen habe ich aufgetaut und an ein Labor für Lebensmittelanalyse geschickt. Und dann hatte ich es schwarz auf weiß.«
Ganshagel erwartete, dass jemand fragte, was denn schwarz auf weiß. Niemand fragte. Man prostete sich mehrsprachig-babylonisch zu. Die Frau mit der Meckifrisur, von der weder Name noch Nationalität bekannt war, öffnete ein kleines Säckchen und reichte es Ganshagel.
»Ich habe hier ein paar Kräuter gesammelt. Können Sie mir sagen, ob Giftpflanzen dabei sind?«
Ganshagel nahm eine Pflanze nach der anderen heraus und betrachtete sie eingehend.
»Oh, Himmelsherold – das ist eine echte Rarität! Was haben wir noch: Weiße Silberwurz, Klebkraut, Kriechender Günsel – soviel ich sehe, ist nichts davon toxisch.«
»In dieser Höhe wachsen aber doch auch Giftpflanzen!«
»Ja, ich kann Ihnen morgen gerne ein paar zeigen.«
Wassili Wassiljewitsch deutete auf einen schmalen Graben, der sich ein Stück weit über die Almwiese zog.
»Was ist das? Ein Bachbett?«
»Nein«, sagte Ganshagel. »Das sind die Reste einer Holzriese. Das sind Rutschen, mit denen früher die Baumstämme zu Tal befördert wurden. Andere Bezeichnungen sind auch Rusche, Husche, Laaße, Ploße, Swende –«
»Interessant«, sagten der GI und die Frau mit der Meckifrisur gleichzeitig.
Die Sonne senkte sich und verlor an Kraft. Manche, wie die beiden Italiener, legten sich auf den Rücken und schlossen die Augen. Der Asiate verschickte Mails. Wassili Wassiljewitsch steckte einen Grashalm in den Mund und stocherte mit seiner russischen Seele im bayrisch-blauen Himmel herum. Das Tagwerk war getan, jeder wollte seine Ruhe.
»Wann geht es morgen los?«, fragte Lucio.
»Um sechs Uhr weckt man uns vermutlich wieder mit dieser verdammt nervigen Ziehharmonika-Musik«, antwortete Fabio. »Halb sieben Waldlauf, gut, das finde ich o.k. Um acht ist das erste Referat.«
»Thema?«
»Interkulturelle Kommunikation.«
»Wird immer wichtiger in unserem Geschäft.«
Ganshagel räumte ab und stellte das Geschirr auf den Leiterwagen. Vereinzelt gab es Gelächter. Schweres russisches Gelächter, wie es in den weiten Ebenen der Taiga erklingt. Elegantes französisches Gelächter, dem frisch perlenden Klang eines Akkordeons ähnlich. Man entspannte sich.
Hundert Meter entfernt lugte ein trübes Augenpaar durch die Büsche. Bei näherem Hinsehen hätte man glauben können, dass der Mann blind war. Glasig schimmerten seine Augen, und sie schienen ins Leere zu blicken. Aber das konnte nicht sein. Der Mann war Maler. Er hielt einen schmutzigen Block in der Hand und zeichnete die Szene mit hastigen Strichen. Und es gab viel zu zeichnen hier auf der Wolzmüller-Alm. Die Sonne ging jetzt langsam drüben in Österreich unter. Von der Käserei wehte eine leichte, aber scharfe Brise von Süßlich-Gegorenem.
»Riecht wie unser Casu Marzu«, sagte Lucio zu Fabio.
Der Tunesier knetete wieder, Pierre las in seinem französischen Buch. Ganshagel wunderte sich. Was war das für eine Gesellschaft! Keiner trank auch nur ein Gläschen Wein oder ein Feierabendbier. Diszipliniert sahen diese Teilnehmer aus, durchtrainiert, ein festes Ziel vor Augen, begierig, bei den morgigen Referaten etwas zu erfahren. Doch jetzt ließen sie sich von der Stimmung auf der Alm gefangennehmen. Einige streiften umher und setzten sich unter kleine Latschen, lehnten sich an Felsbrocken, plantschten in den winzigen Rinnsalen mit frischem Bergwasser. Einer untersuchte die zugewachsene Holzriese mit einem Taschenmesser. Eine Frau hatte sich an eine Zirbelkiefer gesetzt. Nicht die mit der Meckifrisur, sondern der andere der beiden weiblichen Gäste. Das Schauspiel der untergehenden Sonne wollte sich keiner entgehen lassen. Wassili Wassiljewitsch, der Russe, und der GI-Typ fotografierten und schickten die Bilder weg. Der Deutsche mit dem Sonnenbrand auf der Glatze plantschte mit den Füßen im Wasser des Baches. Viele nickten andachtsvoll. Alle genossen die Stimmung.
Nur die Frau, die an der kleinen Zirbelkiefer lehnte, genoss die Stimmung nicht. Sie
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