Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Spazierweg in den Wald, schreiend ins Unterholz sprang und dort neben dem Weg weiterkroch, bis dieser wieder ins freie Gelände führte.
Inzwischen war es hell geworden. Über den Waxensteinen bildete sich eine graue Wolkensuppe. Die ersten Regentropfen fielen, als auf dem Nachtkästchen von Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein das Mobiltelefon klingelte. Schlaftrunken tappte er darauf herum. Polizeiobermeister Johann Ostler war am Apparat.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Chef.«
»Guten Morgen. Was gibts?«
»Eine weibliche Leiche. Todesursache ungeklärt. Nicht natürlich. Ich hole Sie mit dem Jeep ab.«
»Kann ich nicht selbst –«
»Der Tatort ist unzugänglich gelegen, auf sechzehnhundert Meter Höhe.«
»Wo?«
»Auf der Wolzmüller-Alm.«
»Gut, ich bin in einer Stunde vor dem Männereingang der St.-Martins-Kirche. Ich warte dort auf Sie.«
So früh war Jennerwein noch nie vor einem Kirchenportal gestanden. Er hatte dieses Gebäude schon lange nicht mehr von innen gesehen. Vor zwei Jahren hatte er Karl Swoboda, einem gerissenen Österreicher und Berufsstriezi, dort eine falsche Beichte abgenommen, dann war er ihm nachgejagt und hatte die Kirche naturgemäß fluchtartig verlassen. Swoboda war ihm damals entkommen. Irgendwann würde er ihn fassen, den gerissenen Österreicher, den Verkleidungskünstler mit den unstet von Punkt zu Punkt springenden Augen.
Gleich war es sieben Uhr, in wenigen Minuten würde die Morgenmesse beginnen. Jennerwein betrat das Gebäude, ein paar ganz frühe Kirchenvögel waren schon da und pickten Lobpreisungen aus den Gebetbüchern mit Goldrand. Jennerwein setzte sich in die hinterste Reihe des Gestühls, legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch zur Decke. Nachdenklich massierte er seine Schläfen mit Daumen und Mittelfinger. Wie oft hatte er als Bub zu diesem Deckenfresko hinaufgeschaut! Es zeigte den sattsam bekannten Heiligen Martin, den Edelsoldaten mit seinem auseinandergeschnittenen Mantel, seinem dazugehörenden frierenden Bettler, seiner unendlichen Güte, den schnatternden Gänsen und all den Zutaten, die schließlich zum Heiligsein führen. (»Wie schaust denn du aus!?«, muss die Frau vom Heiligen Martin, vielleicht die Heilige Martina, diesen gefragt haben, als er mit halbem Mantel heimkam.) Hubertus Jennerwein war Ministrant gewesen, damals, vor dreißig Jahren. Gerade fiel ihm die Geschichte ein, als –
»Ach, hier sind Sie, Chef!«
Polizeiobermeister Johann Ostler stand neben der Kirchenbank und schüttelte verwundert den Kopf. Jennerwein erhob sich und folgte ihm nach draußen. Es regnete stärker.
»Noch ein bisschen Weihrauch und Myrrhe geschnuppert, Chef?«, sagte Ostler lächelnd. »Irgendwelche Sünden begangen?«
Er wischte sich über den Mund und kickte eine glimmende Kippe, die direkt vor der Kirchentür auf dem Boden lag, mit der Schuhspitze weg. Jennerwein wusste, dass Johann Ostler heimlich rauchte. Alle im Team wussten es. Nur er wusste nicht, dass alle es wussten.
»Heute noch nicht«, sagte Jennerwein.
Sie gingen zum Polizei-Jeep.
»Sind die anderen schon unterwegs?«
»Ja, sie sind alle benachrichtigt. Hansjochen Becker ist mit seinem Team vor einer Stunde losgefahren. Sie werden erst mal die Spuren sichern. Maria Schmalfuß und Ludwig Stengele haben sich ebenfalls schon aufgemacht.«
»Was wissen wir?«
»Es ist die Leiche einer Frau Ende dreißig«, sagte Ostler und ließ den Motor aufheulen. »Fundstelle im Freien. Der Pächter der Wolzmüller-Alm, Rainer Ganshagel, hat die Frau gefunden. Es gab diese Woche ein Seminar auf der Alm.«
»Wie viele Seminarteilnehmer?«
»Fünfzehn oder zwanzig.«
»Also jede Menge Zeugen.«
»Ich denke auch, dass irgendjemand schon etwas gesehen haben wird.«
»Hm«, murmelte der Kommissar.
Jennerwein sah aus dem Fenster des Jeeps, der den Almsteig hinaufbretterte. Es regnete weiter. Das wird Hansjochen Becker, dem Spurensicherer, aber gar nicht schmecken, dachte er. Offener Tatort, und dann auch noch im Regen.
»Die Identität der Frau?«
»Eine Seminarteilnehmerin.«
Ostler schilderte Jennerwein, was auf dem Wolzmüllerhof seit Jahren geschah, Seminare, Tagungen, informelle Treffen.
»Sogar ein Fortbildungsseminar für unsere Polizisten hat es einmal dort oben gegeben.«
»Existiert noch einer aus der Familie Wolzmüller?«
»Der Andreas Wolzmüller hat den Hof schon vor langer Zeit aufgegeben. Ist irgendwie reich geworden. Später ist er dann bei einem Besuch
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