Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Blick der Frau sogar etwas Lauerndes, Gehetztes, aber das war nichts Ungewöhnliches für diejenigen, die hierher auf die Alm kamen. Sie hatten alle solche Blicke.
Was Ganshagel ziemlich nachdenklich machte, war die Tatsache, dass er genau diese Frau am gestrigen Tag noch quicklebendig gesehen hatte, unten im Kurort, in der Wettersteinstraße. Er hatte dort am Morgen Einkäufe besorgt, er war mit Tüten beladen aus einem Geschäft gekommen, er war in Eile, und so war er mit dieser Frau zusammengestoßen, er hatte sich entschuldigt, sie hatte sich entschuldigt, und dann hatte er die Episode vergessen. Dass es eine Seminarteilnehmerin war, hatte er zu dem Zeitpunkt noch nicht gewusst. Und dass sie hier oben umkommen würde, wer konnte das ahnen?
Ganshagel erschrak. Er hatte ein Geräusch gehört, das er nicht sofort einordnen konnte. Ein Knacken? Ein Wispern? – Oder vielleicht sogar Schritte? Eine siedend heiße Welle panischer Angst durchlief ihn. War der Mörder etwa noch in der Nähe? Und wenn nicht, war er in der Nähe gewesen, als er die Frau fand? Erst nach und nach beruhigte sich Ganshagel wieder. Das waren keine menschlichen Schritte gewesen. Ganz sicher nicht. Wenn man wie er zwei Jahre auf der Alm gelebt hatte, dann konnte man die Geräusche der Nacht durchaus unterscheiden.
Kurz nach drei. Ganshagel steckte den Ausweis wieder ein. Er hatte die Ankunft der Frau hier oben auf der Alm gar nicht mitbekommen, sie musste am Nachmittag eingetroffen sein, sie hatte ihre Tasche auf die Theke der Rezeption gelegt, der Ausweis hatte sichtbar und griffbereit in der Seitentasche gesteckt. Sie war dann wohl nach draußen gegangen und hatte sich dort unter die anderen gemischt. So musste es gewesen sein. Und er hatte ja nichts damit zu tun. Ihm konnten sie nichts anhängen. Aber irgendetwas arbeitete in Rainer Ganshagels Kopf, und er wusste nicht, was. Irgendetwas hatte er beim Einkaufen in der Wettersteinstraße noch gesehen oder mitbekommen. Einen Satz, der irgendwie merkwürdig war? Die Art der Entschuldigung, die aus der Reihe fiel? Er wusste es nicht mehr. Es würde ihm schon noch einfallen, da war er sich sicher. Jetzt aber musste er die Seminarteilnehmer informieren. Sonst geriet er vielleicht in ein noch größeres Schlamassel.
In der Zirbelstube brannte noch Licht, der flackernde Schein einer Kerze erhellte die kleine Stube. Durchs Fenster konnte er die beiden Italiener, Lucio und Fabio, erkennen, dazu auch noch Wassili, den Russen. Ganshagel klopfte an die Scheibe. Lucio kam ans Fenster und öffnete es von innen.
»Was gibt es, Cheffe? Noch ein paar Saure Knödel extra?«
Ganshagel entschloss sich, sofort zur Sache zu kommen.
»Ich habe draußen eine Seminarteilnehmerin gefunden«, sagte er so ruhig wie möglich. »Es ist die, die heute Nachmittag erst angekommen ist. Sie liegt unter einem Baum. Sie ist tot. Bevor ich die Polizei rufe, will ich Sie alle noch –«
Blitzartig waren die Nachteulen aufgesprungen. In wenigen Sekunden hatten sich alle drei ihre Jacken und Schals übergeworfen und standen draußen bei Ganshagel. Jeder hielt eine Taschenlampe in der Hand. Alle trugen Handschuhe. Auch eine Waffe hatte er aufblitzen sehen.
»Was erzählen Sie da?«, zischte der Russe barsch und unfreundlich. »Ich hoffe für Sie, dass das kein Scherz ist.«
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte der Hüttenwirt ängstlich. »Und ich sage Ihnen gleich: Der Anblick ist nicht sehr schön.«
»Woher wissen Sie, Cheffe, dass es eine aus unserem Kurs ist?«
»Ich habe hier den Personalausweis –«
Lucio riss ihm den Ausweis fast aus der Hand. Er betrachtete ihn genau. Er zeigte ihn herum. Alle drei überprüften das Wasserzeichen, sie rochen an der Pappe, sie betrachteten die Stempel. Und sie deuteten auf das Bild. Ganshagel glaubte zu bemerken, dass Entsetzen in ihren Augen stand. Aber er konnte sich in der Dunkelheit auch täuschen.
»Da steht Miller«, sagte der Russe. »Luisa-Maria Miller.«
»Nehmen Sie den Ausweis wieder an sich, Cheffe«, sagte Lucio. »Und geben sie ihn später der Polizei.«
Unter der Führung des Hüttenwirts eilten alle vier zur Zirbe. Ganshagel nahm den weichen Filzhut der Frau hoch, leuchtete das Gesicht an, atmete kurz durch.
»Du lieber Himmel!«, presste Fabio hervor. Lucio schoss mit seinem Handy ein paar Fotos.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Ganshagel.
»Sie machen gar nichts, Cheffe«, sagte Lucio. »Wir übernehmen es, die anderen zu informieren. In zwei
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