Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
der Tatsache, dass er sie viel früher entdeckt hatte und dass er die Graseggers alarmiert hatte, konnte Ganshagel dem Kommissar eigentlich alles erzählen. Er hatte nichts zu verbergen. Und ob die Seminarteilnehmer jetzt zwei, drei Stunden früher abgefahren waren –
»Herr Ganshagel«, unterbrach Jennerwein seine Gedankengänge, »ich höre grade, dass wir rüber zum Tatort müssen. Sie sorgen inzwischen dafür, dass keiner Ihrer Gäste das Gebäude und das Gelände verlässt.«
»Aber –«
Jennerwein war schon an der Tür.
»Bereiten Sie inzwischen eine Gästeliste vor. Name, Adresse, die üblichen Personalien.«
Ganshagel spürte drei Hubschrauber in seinem Bauch kreisen. Aber er nickte. Er wollte den Schwung der Ermittlungen nicht bremsen. Dass es keine Gäste mehr auf der Alm gab, dass alle abgereist waren – das konnte er später noch sagen. Er würde sich inzwischen die Worte zurechtlegen. Es wird alles gut, dachte er.
»Ganshagel, Sie sehen schlecht aus«, sagte Ostler. »Wenn Sie ärztliche Hilfe –«
»Nein, nein, es geht schon. Der Anblick der toten Frau –«
»Wir kommen gleich wieder. Warten Sie hier, Ganshagel. Berühren Sie nichts, telefonieren Sie nicht.«
Nachdem beide Polizisten hinausgegangen waren, schrieb Ganshagel eine SMS an den Bürgermeister.
13
Bei der kaiserlichen Treibjagd in Ischgl/Tirol. Der Haberländer Rudi und Wilhelm II. stecken im Unterholz fest.
Haberländer Rudi Majestät! Da vorn isch er, der kapitale Hirsch!
Wilhelm II. Wünsche keine Konversation.
Erschrocken starrte der Bürgermeister auf die SMS-Nachricht von Ganshagel. Er sprang vom Schreibtisch auf und rief Amtsrat Constantin Rohrmus an, den Gemeindekämmerer des Kurorts. Gemeindekämmerer war ein schwieriger Job, bei dem der Ärger zum Tagesgeschäft gehörte. Solch einen Granaten-Ärger wie heute hatte Constantin Rohrmus allerdings auch wieder nicht erwartet.
»Was gibts?«, raunzte er. Der Bürgermeister erzählte von der SMS.
»Ausgerechnet auf der Wolzmüller-Alm! Weiß man schon, wer und wie?«
»Nein, vermutlich ist es ein Seminarteilnehmer. Ich kann den Ganshagel nicht erreichen. Schlechte Verbindung dort droben.«
»Obwohl wir die teuren Repeater um die Alm gebaut haben!«
»Ich probier es nochmals.«
»Ist die Polizei schon verständigt?«
»Vermutlich ja.«
»Kommissar Jennerwein?«
»Ja, ich glaube, er ist dafür zuständig.«
»Ein guter Mann!«
»Ein sehr guter Mann. Er wird sicher ein paar Auskünfte von uns wollen. Ich würde sagen, wir halten uns schon mal bereit. Auch für die Presse. Da gibt es bestimmt Fragen.«
»Es ist wirklich zum Haareausraufen. Kaum ist unser neuer Slogan auf dem Markt, da gibt es schon die ersten Schwierigkeiten.«
Der neue Slogan lautete Entdecke deine wahre Natur. Eine namhafte Werbeagentur hatte eine Summe dafür kassiert, für die man drei Auftragskiller hätte engagieren können. Die beiden Kommunalpolitiker legten auf.
Rainer Ganshagel saß regungslos auf dem Stuhl. Bisher hatte er alles richtig gemacht. Oder etwa doch nicht? Er blickte aus dem Fenster. Der Regen war stärker geworden. Jennerwein und Ostler waren auf dem Weg zu der Zirbelkiefer, an der die Tote lehnte. Gerade stiegen sie über die freiliegenden Wurzeln der alten Lärche, unter der es noch gestern eine herzhafte Knödelbrotzeit à la Gans’agel gegeben hatte. Ein Förster hatte ihm einmal erzählt, dass diese Lärche dreihundert Jahre alt war – vor den Seminarteilnehmern hatte er immer sechshundert draus gemacht. Das üppige Wurzelwerk war durchgesessen von Dutzenden von Almhirtengenerationen – vielleicht sollte er das nächste Mal erzählen, dass die Lärche zweitausend Jahre alt war, dass hier schon vorchristliche keltische Käser und Milchbauern Brotzeit gemacht hatten, später sicherlich auch fahnenflüchtige römische Legionäre, die nach der Teutoburger Pleite hier hängengeblieben waren. Wenn es überhaupt ein nächstes Mal gab. Ganshagel ließ den Kopf sinken. Er konnte jetzt nichts anderes tun als warten. Verdammt nochmal: Was war mit der Frau namens Luisa-Maria Miller dort unten im Kurort gewesen? Was hatte er gesehen, aber gleich darauf vergessen? Leise knarzten die Holzbretter hinter ihm. Er fuhr herum. Er hatte es nicht gleich gehört, weil der Regen so laut an die Fenster schlug und auf das Vordach plädderte. Ganshagel zitterte am ganzen Körper: Es waren nicht alle Gäste abgereist. Der Tunesier war noch im Haus. Er stand da und knetete seinen
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