Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
herein. Zuerst dachte Jennerwein, dass zwei weitere Teammitglieder gekommen waren, nämlich Franz Hölleisen und Nicole Schwattke. Die hätten aber nicht geflucht wie die Bierkutscher.
»Blutsaure Maari nocheinmal, Sauwetter, verrecktes –«
Die beiden Gestalten hatten die Regencapes so über den Kopf gezogen, dass sie immer noch nicht zu erkennen waren. Jennerwein hoffte schon, dass er zwei der Seminarteilnehmer vor sich hatte, die noch nicht abgereist waren. Aber solche hochnoblen Gäste, wie sie Ganshagel wohl zu beherbergen pflegte, hätten nicht so derb und in schönstem Oberländer Dialekt dahingeflucht.
»Kreizsacklzementhalleluja!«, sagte der eine.
»Welcher Volldepp, welcher damische, hat seinen Wagen mitten in den Weg gestellt?«, sagte der andere.
Es waren der Bürgermeister des Ortes und sein Kämmerer, Constantin Rohrmus, die offenbar gezwungen worden waren, den Rest der Strecke zu Fuß zu gehen und nicht ganz bis zur Alm heraufzufahren. Sie schlüpften aus ihren Regencapes und warfen sie wütend auf den Boden.
»Ach, Grüß Sie Gott, Herr Jennerwein! Die Ermittlungen laufen wohl schon?«, sagte der Bürgermeister, immer noch wütend.
»Ja«, sagte Jennerwein nüchtern. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir die Befragung von Herrn Ganshagel gerne fortführen.«
»Rainer Ganshagel ist nur der Pächter und Hüttenwirt«, sagte der Bürgermeister. »Doch das Anwesen selbst gehört der Gemeinde. Ich kann Ihnen gerne alle Auskünfte über das geben, was hier oben geschieht.«
»Was hier oben geschieht, wissen wir eigentlich schon«, sagte Maria spitz. »Halboffizielle Seminare. Diskrete Klausuren. Prominente Gäste. Hohe Tiere. Vielleicht sogar manchmal der Papst selber? Wer weiß?«
Ganshagel und der Bürgermeister warfen sich Blicke zu. Der Kämmerer trat an den Tisch und verrenkte den Kopf, um die Gästeliste lesen zu können.
»Namen, Adressen, Telefonnummern!«, sagte Constantin Rohrmus von oben herab. »Dann haben Sie doch alles.«
»Unsere Befürchtung ist«, sagte Jennerwein ruhig, »dass wir diese Herrschaften unter den angegebenen Adressen nicht finden werden.«
Der Bürgermeister öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Jennerwein hob die Hand und unterbrach ihn.
»Wir sind in Eile, Herr Bürgermeister. Ich habe zunächst vor, das Passfoto der Frau zu veröffentlichen. Ostler, Sie fahren hinunter in den Ort und veranlassen alles. Wer kennt sie, wer hat sie gesehen, das Übliche.«
»Aber muss das unbedingt sein?«, keuchte der Bürgermeister. »Wir leben hier –«
»– von der puren Diskretion, ich weiß«, unterbrach ihn Jennerwein erneut. »Gehen Sie, Ostler. Und einen Phantombildspezialisten brauchen wir auch. Er soll die Gäste nach der Beschreibung von Ganshagel –«
»Ist schon unterwegs«, sagte Ostler stolz.
Der Beamte traf bald ein. Ganshagel schilderte ihm den Tunesier.
»Kaffeebraun, schlank, nein – eher dürr – nein, nicht klapprig, sagen wir: sehr schlank. Auch im Gesicht, nein, nicht eingefallen, die Wangen etwas schmäler –«
Der Phantombildspezialist arbeitete mit der neuesten Spezialsoftware, und er gab sich alle Mühe. Trotzdem dauerte es unendlich lange, bis ein brauchbares Ergebnis vorlag. Ja, wenn jetzt so ein Zeichner wie der Wolzmüller Michl dagewesen wäre! Der Michl, der hätte den Tunesier mit seinem Zimmermannsbleistift nur so hingewischt und aufs Haar getroffen!
16
Sprießt im Unterholz der Reis,
wird der Sommer lang und heiß.
Chinesische Bauernregel
Dass der junge Michl damals, vor vielen Jahren, ein geniales Talent hatte, Personen zu zeichnen, indem er das Wesentliche aus ihnen herausfilterte, das hatte Möbius gleich am Anfang bemerkt. Er verlängerte sein Bleiben um zwei Wochen, um sechs Wochen, um acht Wochen, er hauste weiterhin, wie per Handschlag mit dem Vater vereinbart, mietfrei, und dreimal in der Woche kam er mit dem Michl zusammen. Zum Zeichenunterricht kam der Michl angeschlurft wie einer, dem man Schwerstarbeit zugemutet hatte. Er ließ diese düsteren Stunden lediglich über sich ergehen, damit der Alte ihn in Ruhe ließ. Das war der Handel. Der Michl wollte nichts wissen von Feldarbeit an steilen Almstücken, von Viehzucht, Wetterkunde, Käserei und ähnlichen Zumutungen. Und nur, um dem allen auszukommen, akzeptierte er die didaktisch zweifelhaften Einführungen in die Grundlagen der Zeichenkunst.
Ab und zu kam der alte Wolzmüllervater, um zu sehen, wie der Unterricht lief, und da musste Möbius einige
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