Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Fachausdrücke in den Raum werfen, solche wie Sturzperspektive, Farbraum, CMYK und sfumato. Der Michl hatte die Scharade längst durchschaut. Er spielte mit und nickte. Er war nicht dumm. Er war nur faul. Das ist, wie wir seit Diogenes, Oblomow und ähnlichen Verweigerern wissen, ein riesengroßer Unterschied. Der Michl konnte, rein vom theoretischen Standpunkt aus, wirklich gar nichts. Er nahm den schweren Zimmermannsbleistift, vielleicht aus Trotz, noch immer mit der Faust, und damit zeichnete er. Ab und zu spitzte er ihn mit dem Brotzeitmesser. Der Michl wollte die schöne Zeichenkunst nicht lernen, denn sie interessierte ihn nicht, und vor allem: Er beherrschte sie schon. Er hatte sich im Wald eine Klause eingerichtet, eine kleine Holzhütte, in der er herumhing. Er schlief zwischen zwölf und vierzehn Stunden, und das ungemein Schläfrige nahm er mit herüber ins Wache, wie manche den Tod schon herübernehmen ins Leben.
»Was wollen wir heute machen?«, fragte Möbius.
»Weiß nicht.«
»Ein Selbstporträt?«
»Was soll das sein?«
»Du malst dich selbst.«
»Was soll das bringen?«
Da hatte er eigentlich recht, dachte Möbius, was soll das eigentlich bringen, dass man sich selbst zeichnet. Fast philosophisch war das, dachte Möbius.
»Also gut«, sagte der Michl. »Ich probier es einmal.«
Kein Lächeln erschien auf seinen Lippen. Der Michl nahm den Zimmermannsbleistift in die Faust und schraffierte innerhalb von wenigen Minuten einen jungen, wehmütig konzentrierten jungen Mann mit einem Zimmermannsbleistift in der Hand, der irgendetwas aufs Blatt schraffiert, was ihn nicht weiter zu interessieren schien. Es war erstaunlich, dass er seine eigene Zerrissenheit zwischen einem Ausnahme- und Dutzendmenschen so scharfsichtig porträtieren konnte. Möbius war fasziniert. Er kritisierte, der Form halber, weil es nun einmal zum Unterricht gehört, ein oder zwei Details.
»Der Strich nach oben könnte noch etwas –«
»Was könnte der?«
»Na ja, etwas beherzter.«
Der Michl zuckte die Achseln. Er zerriss das Blatt, zeichnete alles beherzter, nur den einen Strich nicht. Das war seine spezielle Art von Humor.
Beim nächsten Treffen ging Möbius noch einen Schritt weiter. Es war ein Wagnis, aber er öffnete seine Mappe und zog zwei Kunstdrucke heraus, ein Landschaftsbild von William Turner und eine ultramoderne Bleistiftzeichnung von Fuselitz, so etwas wie:
Fuselitz, einer der leuchtenden Sterne am internationalen Kunsthimmel, war bekannt dafür, dass er ein Blatt nur zu einem Bruchteil ausfüllte. Der Wolzmüller Michl warf einen flüchtigen Blick auf die Turner’sche Landschaft.
»Ein Schmarrn«, sagte er.
»Was ist ein Schmarrn?«
»Landschaften zeichnen ist ein Schmarrn.«
»Warum ist das ein Schmarrn?«
»Weil in einem Waldrand kein Gramm Seele drin ist.«
Heute war er fast redselig, der Michl. Er betrachtete die Zeichnung von Fuselitz lange und konzentriert, fast die ganze Stunde. Er spitzte in dieser Zeit den Zimmermannsbleistift um die Hälfte herunter.
»Gefällts dir?«, fragte Möbius.
Michl nickte.
»Möchtest du auch mal so was probieren?«
»Mal schauen.«
Die Geschäfte liefen schlecht. Der Verlag, der Möbius den Auftrag zu den Schülerbibelillustrationen gegeben hatte, war inzwischen eingegangen. Fuselitz selbst, der leuchtende Stern, war vor kurzem in New York gestorben, er hatte ein Vakuum hinterlassen.
»Magst einmal so wie der Fuselitz zeichnen?«
Michl nickte unmerklich. Möbius schob ihm einen Bogen Zeichenpapier unter und zog eine halbe Stunde später einen gefälschten Fuselitz unter Michls Ellbogen hervor. Die Zeichenmappe füllte sich. Möbius hatte immer noch Beziehungen zur Kunstszene. Schließlich verkaufte er Bilder. Sie brachten ein paar Zehntausende. Frank Möbius hatte Blut geleckt.
Die Alm vom alten Wolzmüller lief damals genauso schlecht wie der Markt für Bibelillustrationen. Der alte Wolzmüller ahnte langsam auch, dass Möbius ein Blender und sein Sohn ein Genie war. Weil aber nur diese Möbius-Michl-Kombination Geld heraufspülte auf die Alm, schwieg er. Der Deal war ganz einfach. Möbius legte ein wenig von dem unrecht erworbenen Geld auf den Almbauerntisch, der Wolzmüller-Vater konnte sich wieder ein paar Tiroler Wanderarbeiter leisten. Michl fälschte noch einen Fuselitz, Möbius verkaufte ihn, und die längst fällige Anbindung an die Elektrizität konnte in Angriff genommen werden. So einfach ist das oft. Die Wolzmüller-Alm blühte
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