Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Tasche. Dann holte er einen Tennisball heraus und knetete ihn. Er betrachtete sie prüfend. Es waren lange, quälende Sekunden für die beiden Polizisten. Nicole hob den Kopf und sah ihm in die Augen. Sie versuchte, für diesen einen Satz jegliche Angst aus der Stimme zu nehmen.
»Sie haben keine Chance, aus dem Talkessel herauszukommen.«
Der Tunesier machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Wollen Sie mich daran hindern?«
Dann steckte er die Waffe weg, drehte sich ruckartig um und entfernte sich wortlos in Richtung Wald.
Als er außer Hörweite war, atmeten die beiden Polizisten durch, sofern das in dieser äußerst unbequemen Haltung überhaupt möglich war.
»Schöne Bescherung!«
»Richtig blöde reingefallen!«
»Trotzdem. Das hätte noch übler ausgehen können. Wir haben Glück gehabt.«
Sie waren immer noch ziemlich außer Atem. Auf einem Hügel war in der Ferne eine Gruppe von Wanderern zu sehen. Nicole und Ostler schrien, doch die Wanderer schrien und winkten nur zurück.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, keuchte Ostler. »Wir müssen unbedingt die Kollegen alarmieren.«
»Ich habe eine Idee«, sagte Nicole. »In meiner Hosentasche steckt mein Handy. Wir müssen es nur irgendwie aus der Tasche bekommen.«
Nicole umfasste das Rohr, an dem die Handschellen befestigt waren, und versuchte eine Art Felgaufzug. Sie schüttelte und rüttelte sich. Und irgendwann, nach quälenden und schmerzhaften Minuten, fiel das iPhone aus der Hosentasche auf den Boden. Es kam glücklicherweise so zu liegen, dass Nicole es gerade noch mit den Füßen herziehen konnte.
»Und was jetzt?«
»Wir versuchen, mit den Schuhspitzen eine Nachricht einzutippen.«
Schon mal versucht? Mit den Füßen, die in massiven, gut zugeschnürten Wanderstiefeln stecken, ohne Zuhilfenahme der Hände ein Mobilfunkgerät anzuschalten und dann einen Hilferuf abzusetzen? Schon mal probiert? Nicht? Dann man los.
28
Als Unterholz wird in entsprechenden Szenekreisen auch ein Tattoo bezeichnet, das ausschließlich auf die Fußsohlen tätowiert wird. Beliebte Motive sind hierbei Schuhsohlen mit dem berühmten Camel-Loch oder Anfänge russischer Romane, wie zum Beispiel: Bei den Oblonskijs herrschte Riesenverwirrung …
Im Schnapsladen Absturz brodelte es. Es hatte sich herumgesprochen: Auf der Wolzmüller-Alm war ein Mord geschehen, und irgendwo da draußen lief ein Mörder frei herum. Hier drinnen beugten sich fünfzehn oder zwanzig Gelegenheitsschlucker verängstigt und doch mit einem wohligen Schauer über ihre hochprozentigen Stamperl.
»Den ganzen Kopf weggefressen«, sagte der Jagenteufel Nikolaus und stürzte einen Obstler hinunter. »Spinnst du: den ganzen Kopf weggefressen!«
So ein Stammpublikum ist auf Dauer doch ziemlich untreu. Früher hatte man sich in der Metzgerei Kallinger oder in der Bäckerei Krusti getroffen, jetzt war es angesagt, sich in der Spirituosenhandlung Absturz sehen zu lassen. Vor zwei Jahren war der Absturz noch eine Buchhandlung gewesen, die jedoch immer mehr Geschenkartikel und Spirituosen in ihr Sortiment aufgenommen hatte, schließlich waren die Leute nur noch wegen dem ausgezeichneten Schnaps gekommen.
»Mit E-Spirits kann mir wenigstens keiner das Geschäft versauen!«
Das war der Wahlspruch des ehemaligen Buchhändlers, der jetzt einen edlen Calvados so ausschenkte, wie er früher einen Lyrikband von Baudelaire aufgeschlagen hatte. Dem Hochgeistigen war er treu geblieben.
Die Geschichte mit der toten Frau unter der Zirbe und den Aaskäfern hatte sich natürlich schnell herumgesprochen. Und der Jagenteufel Nikolaus wiederholte es nochmals:
»Den ganzen Kopf weggefressen! Spinnst du: Den ganzen Kopf habens ihr weggefressen, der armen Touristin, der unbekannten!«
Der Vieregg Blasi, der am Tisch saß, setzte noch eine Schauergeschichte drauf.
»Mein Opa war im Ersten Weltkrieg an der Westfront, 1914/15, bei Ypern. Da sind sie zu einem französischen Schützengraben gekommen, der ist völlig leer gewesen, bloß noch ein paar von den Knöcherlputzern sind weggekrochen. Die Kennmarken und die Gürtelschnallen sind noch dagelegen, sonst war alles weggeputzt.«
Der Hellinger Helmut schaltete sich ein.
»Als die Paulsdorf Agnes gestorben ist, ist was Ähnliches passiert. Sie hat beim Fenster rausgeschaut, hat allen Vorübergehenden zugenickt, erst nach Monaten hat man bemerkt, dass sie schon tot war. Die Aaskäfer haben sie schon zur Hälfte aufgefressen, die Paulsdorferin, nur haben sie bei den
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