Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Füßen angefangen. Die hat nämlich gar nicht genickt, das war der Wind. Monate ist sie so dagesessen.«
»Monate! Beim letzten Mal waren es bloß Wochen!«
»Aber dagesessen ist sie! Und genickt hat sie! Ich hab sie selber gesehen.«
An einem anderen Tisch saß der Flury Benno, der nur noch einen Arm hatte.
»Ich bin ja heilfroh, dass es die Viecherl gibt«, sagte er und hob das Bierseidel mit dem intakten Arm. »Sonst würd ich vielleicht nicht mehr leben.«
Der Benno hatte im Wald als Holzknecht gearbeitet. Das war schon immer ein bitterer und zutiefst unromantischer Beruf, denn es ging das Sprichwort: Wen das Beil nicht trifft, den beißt der Kerf. Als Kerf wurde früher die Borreliose-Zecke bezeichnet, die die entsprechenden Bakterien als Wirtstier beherbergte. Alle Holzknechte hatten den Kerf. Aber auch alle Jäger und pensionierten Forstamtsmeister, alle Wilderer, keuchenden Jogger, Liebespaare, Naturschützer, Schwammerlsucher, Geheimnisträger, Vogelfreunde, Philosophen, alle pensionierten Studienräte, Heimatdichter, Beerensammler, die Rosner Resl, Waldläufer und was noch nicht alles, was den Werdenfelser Wald bevölkert, alle hatten sie früher den Kerf. Von wegen Romantik.
»Ich war allein im Wald. Da hat mich ein herunterfallender Ast an der Hand erwischt. Alles war total kaputt, vollkommen zerbaazt. Damals hast du ja nicht einfach ins Krankenhaus fahren können. Hast schon, aber zahlen hast es nicht können. Alles zerbaazt also. Ich bin dann zum Bader Wastl gelaufen.«
Der Bader war noch bis vor einigen Jahrzehnten Ansprechpartner für alles Mögliche: Warzen wegbeten, Zähne ziehen, zur Ader lassen, Gliedmaßen amputieren.
»Der Bader hat damals die Knöcherlputzer angesetzt.«
Einige am Tisch blickten skeptisch. Doch der Apotheker Blaschek, der aus dem Tschechischen herübergemacht hatte, unterstützte den Benno.
»Lachts nicht! Das stimmt, die Rothalsigen Silphen werden auch therapeutisch eingesetzt. Die fressen nekrotisches Gewebe. Früher wurde Wundbrand noch so behandelt. Die wurden extra gezüchtet dafür. Mit Morcheln wurden sie gefüttert. In den Bäumen haben sie ihre Nester gehabt. Im Tschechischen, wo ich herkomme –«
»Der Bader Wastl also macht sein Schachterl auf, lässt die Viecherl frei, und die fressen den Arm brav und sauber ab. Kaum eine halbe Stunde hat es gedauert. Hat ein bisserl gekitzelt, aber danach war mir wohler. Der Bader hat mir bloß noch den Knochen wegsägen müssen.«
»Das ist auch jedes Mal eine andere Geschichte mit deinem Arm!«, sagte der Scheuchzer Schorsch, seines Zeichens Dorfgigolo und Erfinder von wahnsinnig originellen Anmachsprüchen.
»Diesmal ist es aber die wahre!«
Der Flury Benno hatte in der Tat schon die eine oder andere Geschichte als die wahre angepriesen, warum ihm ein Arm fehlte. Eine blutige Sägewerksgeschichte aus Niederbayern. Eine brutale Armdrück- und Fingerhakelgeschichte aus dem hiesigen Bierzelt. Eine oberfiese Polizeigriffgeschichte aus dem Grenzer- und Schmugglerleben. Und ausgerechnet diese, die ekligste, soll nun die wahre gewesen sein?
»Aha! Die Damen und Herren von der Polizei! Was wird denn in einem Schnapsladen untersucht? Habt ihr schon eine Ahnung, wer das war?«
Maria Schmalfuß und Franz Hölleisen waren zur Tür hereingekommen, sie drängten sich durch die Feierabendschlucker und zeigten Luisa-Marias Foto nach allen Seiten herum. Schon mal gesehen? Erkennen Sie die Frau? War sie in den letzten Tagen in Ihrem Geschäft? Kommt sie Ihnen bekannt vor? Hölleisen hatte den Job, das Bild quasi halboffiziell zu zeigen und so zu tun, als käme die Polizei nicht weiter, als bräuchte man die Hilfe der Bevölkerung. Was ja eigentlich auch stimmte. Marias Part war es, die jeweiligen Reaktionen darauf genau zu beobachten. Doch niemand hatte anscheinend etwas zu verbergen. Bis jetzt niemand.
»Wollen Sie auch einen Schnaps, Frau Doktor?«, sagte der Scheuchzer Schorsch, und er setzte gleich noch einen gereimten Anmachspruch drauf:
»Trinkt d’ Frau Doktor ein’ Likör,
dann setzt sie sich zum Schorschl her!«
Maria lehnte reimlos, aber bestimmt ab. Als sie sich umdrehte, hörte sie in ihrem Rücken:
»Jedes Mal, wenn man wo hingeht, wo es wirklich gut ist, dann ist die Polizei da und will irgendwas. Ich glaube, in den Absturz kann man auch nicht mehr gehen.«
»Auweh zwick! Jetzt kommt aber einer!«
Auweh zwick! Da kam tatsächlich einer! Fünfzehn oder zwanzig Köpfe drehten sich gleichzeitig zur Tür.
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