Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Martin sein.«
»Der Schutzpatron der Gemeinde, richtig. Ich bin als Kind hier in dieser Kirche Ministrant gewesen. Damals wurde gerade renoviert, und ich bin zwischen den Stützverschalungen auf den Dachboden der Kirchenkuppel geklettert.«
Jennerwein beschrieb mit den Fingern den Weg.
»Zwischen der eigentlichen Decke und der Kuppel gab es einen Hohlraum, in dem ich gerade Platz gefunden habe. Es war stockdunkel dort oben, staubig und muffig. Dann ist plötzlich ein paar Meter vor mir ein dünner Lichtstrahl aus dem Boden geschossen. Unten spielte schon die Orgelmusik zur nächsten Messe auf. Alle haben Näher zu dir, mein Gott, zu dir gesungen, und das hat irgendwie gepasst. Ich bin zu dem Loch in der Decke gekrochen, durch das man nach unten ins Kirchenschiff schauen konnte. Ich konnte die ganze Kirchengemeinde sehen, ich kann mich noch heute daran erinnern, wer wo gesessen ist. Es war eine Messe für den alten Kuhschnappel. Ich habe die ungewohnte Perspektive genossen.«
»Sie waren mitten im Paradies.«
»In gewisser Weise ja. Zwischen Adam und Eva, den ganzen Heiligen und Engeln. Ich beugte mich noch weiter aus dem Guckloch hinaus. Ich erwartete irgendetwas Besonderes da unten, eine Entdeckung, irgendein Geheimnis, etwas Außergewöhnliches.«
»Wie meinen Sie das?«
»Zum Beispiel eine Person, die gar nicht da sein sollte. Jemand, der auf dem Chorgestühl beraubt, gewürgt, ermordet oder zumindest bedrängt wurde –«
»– und dem Sie zu Hilfe eilen konnten.«
»Ja genau«, sagte Jennerwein lächelnd. »So hatte ich es zumindest in den Abenteuerschmökern gelesen. Aber nichts dergleichen ist damals geschehen, es war eine ganz normale Messe, eine geräuschvolle Pumpermesse für den alten Kuhschnappel eben.«
Jennerwein massierte seine Schläfen.
»Haben Sie sich damals entschlossen, Polizist zu werden?«, fragte Maria.
»Vielleicht«, sagte Jennerwein. Beide erhoben sich. Sie verabschiedeten sich heiter. Ein kleiner Anflug von Czárdásgeigermusik vielleicht, die sich zwischen die sakralen Orgelklänge mischte – aber sie waren alle zwei zu müde, um diesen bittersüßen Klangspuren weiter nachzugehen. Sie verließen die Kirche.
Eines aber wusste Jennerwein nicht. Dass nämlich die Nussbein Monika unten im Kirchenschiff gesessen und hinaufgeschaut hatte zum Heiligen Martin, als der junge Hubertus damals dort oben herumgekrochen war. Sie war nicht eben tiefreligiös, die Nussbein Moni, eher so lala, sie war zur Seelenmesse des alten Kuhschnappel gegangen, weil es sich so gehörte. Ziemlich gelangweilt blickte sie hoch zur Decke und betrachtete den Heiligen Martin, der dem Bettler einen Mantel hinwirft. Der Kirchenchor war beim Jubilus, dem Kirchenjodler, angelangt. Da, plötzlich drehte sich der Kopf des Heiligen Martin herum. Und der Heilige Martin blickte die Nussbein Monika an. Und dann zeigte er, der ja auch schon zweitausend Jahre tot war, mit dem Finger auf sie. Er winkte ihr zu. Er bedeutete ihr, heraufzukommen, ins Paradies. Die Frau Nussbein ist nie wieder richtig im Kopf geworden, wie es hieß.
33
Wer im Unterholz lebt, soll nicht mit Macheten werfen.
Altes Sprichwort aus Goa
Der Himmel legte sich wie ein schwarzes Samttuch über das Werdenfelser Tal, und ein großer Tunichtgut pikste mit einer gigantischen Nadel Tausende von Löchern in den weiten Weltanzug. Eine Milliarde hatte er schon geschafft. Hoffentlich übertrieb er es nicht wieder wie in dem einen Fall, als er ein mondgroßes Loch herausgestochen hatte.
Auch die Inder betrachteten den Nachthimmel über dem Loisachtal.
»Schön ist es hier in diesem Kurort«, sagte Pratap Prakash. »Und was das Beste ist: Wir haben auch noch das Glück gehabt, ein Zimmer mit Blick auf die Alpen zu bekommen. Es ist ein Hauch von Himalaya, findet ihr nicht, liebe Freunde? Eine Spur von den Hochebenen der Provinz Uttarakhand.«
»Trotzdem ist es schade, dass das Seminar abgebrochen worden ist«, sagte Dilip Advani. »Ich hätte gerne etwas gelernt.«
Man lernt immer , schrieb der stumme Raj Narajan auf einen Zettel. Selbst wenn man meint, man hätte nichts gelernt.
»Seht nur den leichten Anflug von Abendrot! Wie wenn man auf das Nanda-Devi-Massiv blickten würde! Auf die Göttin der Freude!«
Wie jeder Inder liebte und verehrte auch Pratap Prakash das Gebirge. Als Indien vor Jahrmillionen noch eine riesige Insel war, hatte sie sich in das asiatische Festland gebohrt und so das Himalaya-Gebirge aufgeworfen. Immer noch bewegte sich
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