Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
der indische Riesenkeil in Richtung Norden – vergleichbar mit unserer Insel Sylt, die zwei, drei Zentimeter pro Jahr auf Niebüll zudriftet, um hinter dem Rickersbüller Koog vielleicht dereinst eine Art von nordfriesischem Himalaya aufzutürmen. Aber das ist eine andere Geschichte. Denn das große Himalaya-Gebirge mit seinen vielen Achttausendern, das ist den Indern im Lauf ihrer wechselvollen Geschichte in weite, unerreichbare Ferne gerückt worden. Deshalb liebten sie die Berge. Ein Film ohne Alpen war für einen Inder kein richtiger Film.
»Hier in der Pension Üblhör können wir eine Zeitlang bleiben«, fuhr Pratap Prakash fort. »Wenigstens so lange, bis sich der Trubel gelegt hat. Wenn wir gerufen werden, können wir unseren Auftrag in Köln schnell und präzise erledigen. Inzwischen haben wir Gelegenheit, die Sitten und Gebräuche der Einheimischen hier zu studieren.«
»Ich habe gelesen«, schrieb Raj Narajan, »dass der Tag eines Alpenländers folgende neun Dinge enthalten soll: Schuhplatteln, Jodeln, Fensterln, Fingerhakeln, Weißwurstzutzeln, Schmaischnupfen, Hallelujasingen –«
»Wir machen das alles noch. Wir verbinden Geschäftliches mit Vergnüglichem, das tun viele in diesen Gefilden. Es ist immerhin ein Kurort.«
»Und was ist mit der Polizei, die momentan in dieser lieblichen Kulisse ermittelt?«
»Das ist sogar ein Vorteil – wir haben die Polizei jederzeit im Blick. Wir befinden uns im Auge des Orkans, lieber gebildeter und beredsamer Freund. Darüber hinaus sind wir hier in der tiefsten Provinz. Die besten und edelsten Kräfte der Polizei sind in der Großstadt, das ist auf der ganzen Welt so. Bisher hat die Polizei keine Ergebnisse vorzuweisen.«
»Und der Pedell des Anwesens, Rainer Ganshagel?«
»Der hält dicht, davon bin ich fest überzeugt. Unser Überraschungsangriff war ihm Warnung genug.«
»Vielleicht sollten wir ihn nochmals besuchen. Er soll wissen, dass wir ihn jederzeit im Blick haben.«
»Eine gute Idee, schaden kann es nicht. Offenbar hat die Polizei keine Ahnung, was da droben wirklich los war.«
»Schade ist es trotzdem, dass das Seminar auf diese Weise unterbrochen wurde. Es ist wichtig für unseren Berufsstand, dass nicht jeder für sich alleine arbeitet, sondern dass wir organisiert sind und unsere Rechte durchsetzen können!«
Und genau deswegen waren sie zusammengekommen in dem idyllischen Kurort mit den herrlich schlechten Zu- und Abfahrtsmöglichkeiten. Genau das war das Hauptthema der Fortbildung gewesen. Ihr Berufsstand war in der Krise. Die Nachfrage war zwar riesengroß – immer mehr Menschen kamen unversehens in die Verlegenheit, die Dienstleistung der Pierres und Wassilis, der Lucios und Fabios dieser Welt beanspruchen zu müssen. Die Frauen mit den Meckifrisuren und die Tunesier mit den Tennisbällen mussten sich jedoch im Verborgenen bereithalten, im Halbdunkel zwielichtiger Organisationen, schikaniert von den Behörden, verachtet und angefeindet von der Gesellschaft, ausgeschlossen von den Segnungen der Zivilisation – kaum einer von ihnen war krankenversichert oder hatte Anspruch auf Rente, von einem geregelten Einkommen oder gar Mindestlohn ganz zu schweigen. Dieses alte und in vielen Kulturen hochgeachtete, wenn nicht sogar ehrbare Gewerbe war im Lauf seiner wechselvollen Geschichte immer gezwungen gewesen, im Bereich der Illegalität zu arbeiten. Das waren finstere Zeiten gewesen, gewiss. Aber ausgerechnet heutzutage, in einer Zeit, in der es für die absurdesten Dienstleistungen übersichtlich gestaffelte Angebote gibt, geregelte Internetauftritte, kundenfreundliche Vergleichspräsentationen bis in die entlegensten Regionen der Welt, ist der Auftragsmörder, der Berufskiller, der Hitman, der Tueur à gages, der Assassino immer noch gezwungen, sich in schmutzigen Bahnhofsvierteln, übelbeleumundeten Kaschemmen und schmierigen Vorstadtcafés herumzutreiben, um seine Dienste den Schultheissens dieser Welt anzubieten.
»Wie so oft denkt niemand an die Opfer!«, sagte Pratap Prakash nachdenklich. »Und zwar die Opfer, die durch Dilettanten und Sonntagstäter ums Leben kommen, die Opfer, die oft nicht einmal ein ordentliches Begräbnis erhalten, von einem schmerzlosen und schnellen Tod einmal ganz zu schweigen.«
Und wieder hatte Pratap Prakash die Situation richtig dargestellt. Heutzutage drängen sich sogenannte Profis und Experten für alles Mögliche ins Rampenlicht, zum kleinsten Pipifax gibt es einen funktionierenden
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