Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
worden. Dann haben wir ihn halt beerdigt.«
Herzinfarkt, das stimmte schon irgendwie, aber Herzinfarkt, das war auch bloß die halbe Wahrheit. Ursel und Ignaz hatten Ostler nicht alles erzählt, was damals droben geschehen ist, auf dem Höhepunkt des Reichtums der Familie Wolzmüller. Und auf welch exzessive und gleichzeitig peinliche Weise der alte Wolzmüller gestorben ist. Aber über den jungen Wolzmüller Michl, über das stinkfaule Genie – da wussten sie tatsächlich nichts. Über den wusste aber kaum jemand etwas Genaues. Eigentlich nur, dass er der Spross einer uralten Almwirte-Dynastie war, seinem Namen allerdings keine Ehre gemacht hatte, weil er in irgendeine wilde Geschichte hineingeraten war.
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Ein »Unterhölzchen« (auch Blankscheit oder Planchette) ist ein hartes, aber elastisches Plättchen zur Versteifung von Miedern und Korsetts. Das Unterhölzchen ist ein Vorläufer des Wonderbras, daher auch die Wendung: »Holz statt der Hütte haben« (Und nicht, wie meist fälschlich gebraucht: »Holz vor der Hütte haben«.)
Wer war es, der gesagt hatte, im Nichtstun und in der Faulheit läge der eigentliche Sinn des Lebens? Marx? Kant? Engels? Schopenhauer? Sartre? Camus? Augustinus? Spinoza? Feuerbach? Nietzsche? Wittgenstein? Platon? Aristoteles? Kierkegaard? Leibniz? Hegel? Descartes? Rousseau? Hobbes? Diogenes? Euler? Heidegger? Konfuzius? Locke? Popper? Russell? Epikur? Beckenbauer? Jaspers? Schelling? Sokrates? Voltaire? Fichte? Kopernikus? Herder? Galilei? Newton? Heraklit? Marcuse? Horkheimer? Pythagoras? Adorno? Paracelsus? Montaigne? Seneca? Foucault? Priestley? Chomsky? Wolff? Bergson? Weber? Empedokles? Zarathustra? Freud? Bacon? Kepler? Cicero? Plutarch? Schleiermacher? Berkeley? Husserl? Machiavelli?
Alle ein bisschen und niemand so richtig. Ja, wenn die alle den Wolzmüller Michl gekannt hätten! Dieses stinkfaule Genie ging gerade die Bahnhofstraße des Kurortes entlang. Was heißt ging: Der Michl schlurfte dahin. Seine Kleidung und überhaupt sein Äußeres wirkten abgerissen. Noch eine Rasur weniger, und er wäre als unheimlicher Clochard durchgegangen. Er war harmlos, aber er verbreitete auf den ersten Blick etwas Bedrohliches. Trotzdem hatte man sich an ihn gewöhnt, er war ein Teil des Straßenbilds, nur noch Fremde und Zugereiste warfen einen verstohlenen Blick auf diesen Mann mit dem Zimmermannsbleistift hinter dem Ohr, der trübäugig geradeaus vor sich hin starrte und kein rechtes Ziel zu haben schien.
Heute hatte er aber durchaus ein Ziel. Heute war nämlich der Tag, an dem der Wolzmüller Michl Geld von der Bank abhob. Er hob nicht viel ab von seinem prall gefüllten Bankkonto – wozu auch. Seine Lebenshaltungskosten gingen auf null zu. Er hatte sich schon vor langer Zeit eine efeuumschlungene Holzhütte am Rand des Kurorts gekauft, dort hauste er. Schulkinder, die vorbeigingen, zeigten auf das verwitterte Ding, im Winter warfen sie Schneebälle, im Sommer gefüllte Luftballons auf die Terrasse des ersten Stocks. Um sie zu verscheuchen, genügte es, wenn der Michl heraustrat. Das Mannesalter hatte ihn noch hässlicher gemacht, er hatte jetzt etwas phlegmatisch Verwegenes angenommen. Nicht nur Kinder liefen schreiend davon.
Der Michl betrat jetzt ein Schreibwarengeschäft. Er blickte in irgendeine Ecke. Ganz selten schaute er jemanden direkt an.
»So, Michl, brauchst wieder Papier?«
Keine Antwort. Nicht einmal ein Nicken oder ein kleines Zucken im Auge. Warum antworten, dachte er, wenn es ohnehin klar war, dass er, wie schon seit Jahren, zwei Blöcke à fünfzig Blatt Zeichenpapier mit einer ganz bestimmten Dicke und Oberflächenstruktur brauchte, dazu fünf extra grobe Zimmermannsbleistifte, die eigens für ihn in Übersee bestellt werden mussten. Der Michl zahlte, das heißt, er warf einen Schein auf den Tisch, den er aus der Tasche zog. Er verzichtete auf das Wechselgeld.
»Dankschön, Wolzmüller. Der Herrgott wird dirs lohnen. Im späteren Leben.«
Keine Antwort, keine Abschiedsfloskel, nicht einmal ein kleiner höflicher Nickerer. Man sagte trotzdem Dankschön. Er war ein harmloser Spinner, einer, der nicht ganz richtig im Kopf war. Er hatte noch nie jemandem etwas getan. Aber wusste mans?
Er ging in die Metzgerei Kallinger. Man stellte ihm eine Tüte mit Brotzeit hin. Die Brotzeit war schon vorbereitet, nichts Billiges, alles nur vom Feinsten. Man erwartete ihn, einmal in der Woche an einem bestimmten Tag, immer um die gleiche Zeit. Er nahm die Tüte, und
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