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Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)

Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)

Titel: Unterholz: Alpenkrimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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auch hier legte er wortlos einen Schein hin, auch hier drehte er sich grußlos um und verzichtete auf das Wechselgeld. Einmal war eine neue, uneingeweihte Verkäuferin im Laden gewesen, die ihn nicht kannte. Die lief ihm, aufgeregt mit dem Schein wedelnd, nach.
    »Moment, der Herr kriegen noch was zurück!«
    Sie wurde von der Chefin, der Kallingerin, sofort zurückgepfiffen.
    »Mensch, Maderl, das ist doch der Wolzmüller Michl! Der mag es gar nicht, wenn man ihm nachruft. Mach das bloß nicht noch einmal!«
    »Aber er kriegt noch was raus!«
    »Der hat genug Geld, das kannst du mir glauben. Der ist bloß zu faul, um den Geldbeutel nochmals aufzumachen.«
    Der Michl hatte das Mädchen, das ihm nachgelaufen war, zu Hause gemalt. Aus dem Gedächtnis, wie er meistens aus dem Gedächtnis malte. Er hatte ihr Unwohlsein gezeichnet, in solch einem unvorteilhaften blauen Kittel zu stecken, er hatte ihre Verärgerung gezeichnet, einem offensichtlich Geistesgestörten nachlaufen zu müssen. Das alles hatte er in ihre Körperhaltung, in ihre Mimik, in ihre Fingergestik hineingezeichnet. An diesem Bild arbeitete er mehrere Stunden. Er zerriss ein Blatt nach dem anderen. Als er endlich damit zufrieden war, musste er lächeln. Das war selten, aber diesmal musste er einfach lächeln. Die Zeichnung gefiel ihm. Das war eine Zeichnung, die der unselige Möbius wieder einmal als echten, fünf- oder gar sechsstelligen Kai Fuselitz ausgegeben hätte: Fleischfachverkäuferin in Aufruhr.

    Mit einem Wort: Der Michl hatte also das Zeichnen nicht aufgegeben. Er malte regelmäßig, mindestens einmal in der Woche, und es kamen immer ein oder zwei Bilder dabei heraus. Diese Angewohnheit hatte sich die ganzen Jahre über gehalten. Es wäre nicht nötig gewesen, denn einen Möbius, der ihn dazu gedrängt hätte, gab es nicht mehr. Frank Möbius, der Manager und Menschenschinder, war kurz nach dem Tod von Michls Vater ums Leben gekommen. Und dann war der ganze Schwindel nicht etwa aufgeflogen, sondern im Sande verlaufen. Der Michl hätte wirklich nicht mehr zum Zimmermannsbleistift greifen müssen. Auch einen künstlerischen Drang verspürte er nicht. Er malte und zeichnete einfach aus Gewohnheit.

    Der Michl schlurfte jetzt langsam nach Hause. Die Kinder machten einen großen Bogen um ihn. In der Badgasse sprach ihn jemand an. Er gab keine Antwort. Dann bemerkte er eine Frau mit kurzen, dunklen Haaren und Sonnenbrille. Sie hatte etwas Getriebenes, Gespanntes. Ihm schien, dass sie sich etwas vorgenommen hatte. Sie ging schnurstracks auf ein Ziel zu. Sie war wie eine Sprungfeder. Im Kopf begann der Michl schon zu skizzieren. Er würde diese Frau als Sprungfeder zeichnen. Und genau das ahnten die Einwohner des Kurortes nicht: Er zeichnete sie alle. Sein Vorteil war, dass er sich die Gesichter genau merken konnte, dass er die Posen im Gedächtnis behielt. Er starrte einen Einwohner scheinbar geistesabwesend an, er studierte dabei das Gesicht, er studierte die Körperhaltung, er studierte die Marotte. Jeder hatte eine Marotte. Das machte ihn aus. Und dieses Charakteristische erkannte der Michl sofort. Dann schlurfte er heim und zeichnete zum Beispiel die Sprungfederfrau. Oder die Moser Gundi. Oder die Herbrechtsmeier Karin. Den Harrigl Toni. Den Bürgermeister. Den Vorsitzenden des Volkstrachtenvereins. Er zeichnete einen Kurgast aus Köln. Einen Knollennasigen. Dann den Kommissar Jennerwein. Und sein spindeldürres Klughaferl, diese Maria. Er zeichnete den groben Klotz von Allgäuer, ihm zeichnete er schroffe Felswände ins Gesicht. Er hatte sie alle gezeichnet. Wenn er ein Bild fertig hatte, dann nahm er es mit zwei spitzen Fingern und trug es hinunter in den Keller, wo die anderen Tausende Bilder lagen. In diesem Punkt glich er den anderen Malern: Malen, ja gerne, aber mit den fertigen Produkten konnte er nichts mehr anfangen. Seit Jahren ordnete er die Bilder schon nicht mehr, er warf sie einfach die Kellerstiege hinunter. Der Möbius kam ja sowieso nicht mehr, um sie abzuholen. Schon lange nicht mehr. Gott sei Dank.

    Ab und zu ging der Michl hinauf zur Wolzmüller-Alm, auf verschlungenen Wegen natürlich, auf geheimen Schleichpfaden, auf ausgetretenen Rinnen, die er schon als Bub benutzt hatte, wenn er sich von der Arbeit abgeseilt hatte. Er besuchte das Grab seines Vaters, das inzwischen ganz zugewachsen war, weil nur der Wind es pflegte.
    Du alter, gieriger Rackerer, dachte der Michl. Das hast du jetzt davon. Vom ewigen Rackern.

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