Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
bisschen Heu geerntet hatten, das zu ernten war. Sie hatten die Sensen hart, ruhig und besonnen geschwungen, sie waren wetterkundig, sie lasen aus den Bewegungen der Spinnen im Gras die Tiefdruckumschwünge der nächsten zwei Tage ab, und ihre Voraussagen trafen immer zuverlässig ein. Das jedoch war lange her. In dieser Woche hatte sich stattdessen ein gutes Dutzend Seminarteilnehmer aus allen möglichen Ländern auf dem abschüssigen Gelände breitgemacht. In welcher Branche die Freizeit-Alpler hauptberuflich arbeiteten, das konnte man auch mit dem superscharfen EDF 7 × 40 nicht erkennen.
»Sie haben sich zerstreut«, sagte der Neurologe. »Jeder sitzt für sich allein im Gras.«
Der Neurologe schwenkte von Teilnehmer zu Teilnehmer. Ein dunkelhäutiger, schlanker Nordafrikaner knetete einen Tennisball, er tat das abwechselnd mit der linken und der rechten Hand, und er betrachtete das Muskel- und Sehnenspiel seiner kakaobraunen Unterarme aufmerksam. Fünfzig Meter weiter tippte ein Mann mit erkennbar fernöstlichen Wurzeln auf einem Notebook herum, ohne auch nur einmal aufzusehen. Noch weiter entfernt, an der Biegung eines kleinen Almbachs, lümmelte eine bullige Gestalt, ein Rockertyp mit Lederjacke und einem Sonnenbrand auf der Glatze, er hockte auf dem Boden und nuckelte an einer Flasche Limonade. Alle hatten sich ein einsames Plätzchen gesucht, lediglich zwei ausgesprochen südeuropäisch aussehende Männer (schwarzblauer Bartschatten, maßgeschneiderte Schuhe, Zahnstocher im Mundwinkel) saßen auf einer Bank nebeneinander. Sie starrten ins Gras. Ab und zu sagte einer etwas, es schien sich um etwas Bedeutungsvolles zu handeln.
»Schade, dass ich nicht Lippen lesen kann«, sagte der Neurologe.
Es war in der Tat eine sehr gemischte und internationale Truppe, die sich da versammelt hatte. Der Nordafrikaner, der den Tennisball knetete, kam aus Tunesien und nannte sich Chokri, den Namen des Asiaten mit dem Notebook wusste niemand. Der Altrocker mit Sonnenbrand auf der Glatze war Deutscher. Die beiden Italiener kamen aus Sizilien und Kalabrien, sie wollten mit Lucio und Fabio angeredet werden. Vielleicht hießen sie ja wirklich so.
»Starker Vortrag«, sagte Fabio und deutete mit dem Daumen nach hinten, in Richtung Almhütte.
»Ja, es ist immer sehr interessant, zu solchen Seminaren zu kommen«, erwiderte Lucio. »Man erfährt viel Nützliches. Wusstest du das mit dieser Optographie?«
»Nein, keine Ahnung. Habe noch nie davon gehört. Da denkt man, dass man sich auskennt in seinem Beruf. Und dann erfährt man sowas. Optographie! Kann ja ziemlich unangenehm für uns werden.«
Lucio antwortete nicht und pfiff stattdessen ein sizilianisches Liedchen. So ein sizilianisches Liedchen kommt manchmal einer Antwort sehr nahe. Fabio pflückte ein Almblümchen und betrachtete es.
»Sieht giftig aus.«
»Man müsste sich viel mehr mit Kräutern und Pflanzen beschäftigen.«
Lucio wiederholte das sizilianische Liedchen. Fabio kaute vorsichtig auf dem Almblümchen herum.
»Was ist eigentlich mit diesen drei Indern, von denen alle geredet haben?«
»Ich habe sie noch nicht gesehen.«
»Wie hießen sie noch mal? Hast du dir ihre Namen gemerkt?«
»So ähnlich wie – warte, ich habe es mir aufgeschrieben.«
Lucio zückte einen altmodischen Notizblock, der über und über vollgekritzelt war.
»Hier habe ichs: Pratap Prakash, Dilip Advani und Raj Narajan. Die müssten eigentlich schon längst da sein.«
»Vielleicht kommen sie ja heute noch.«
Der Tunesier, der Asiate, der Deutsche, die beiden Italiener – das waren beileibe nicht alle Kursteilnehmer auf der Wolzmüller-Alm. Unter der angeblich sechshundert Jahre alten Lärche saß beispielsweise ein eleganter junger Mann, der wohl als Einziger vergessen hatte, Outdoor-Kleidung einzupacken. Der feine Zwirn war über und über verstaubt und beschmutzt, aber er trug ihn mit Würde. Er las in einem Buch. Es war ein Buch mit einem französischen Titel. Und es war Pierre, der Franzose. Kaum hatte er ein paar Seiten gelesen, bekam er Besuch. Ein igelköpfiger GI-Typ, auf tausend Meter Entfernung als US-Amerikaner erkennbar, näherte sich dem gallischen Bücherfreund.
»Hi, Pierre«, sagte der Amerikaner. »Lust auf ein bisschen Feldarbeit?«
Pierre schlug das Buch zu.
»Gerne. Aber sollen wir das ’eu mit der ’and ausrupfen?«
»Da drüben in dem Schuppen gibt es Sensen und Rechen.«
Und tatsächlich, der amerikanische GI und Pierre, der feine Pinkel aus
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